Schattenflüstern und geheime Mächte: Die düstere Welt von The Shadow Key

Von Vivien Sophie Schröder // Grafik von Steffen Dürre

Wenn der Herbst die Tage kürzer werden lässt und der Nebel die Umgebung in eine mystische Atmosphäre taucht, ist die perfekte Zeit für düstere Geschichten gekommen. Die „Spooky Season“ verlangt nach einem Buch, das uns in seinen Bann zieht und uns in fremde Welten entführt, in denen das Unheimliche in jedem Schatten lauert. Für all jene, die ihre Leseliste um ein solches Werk erweitern möchten, ist The Shadow Key von Susan Stokes-Chapman die ideale Wahl. Es ist ein atmosphärischer Gothic-Roman, der meisterhaft historische Realitäten mit mythischen und übernatürlichen Elementen verwebt.

Das Buch entführt uns ins Wales des späten 18. Jahrhunderts. Dort, inmitten windgepeitschter Hügel und nebliger Felder, liegt das abgeschiedene Anwesen Plas Helyg – ein Ort, der von Beginn an von einer unheilvollen, fast greifbaren Dunkelheit umhüllt ist. In diesem düsteren Setting tritt Henry Talbot auf, ein junger Arzt, dessen Stern in London einst hoch am Himmel stand, doch der nun, gebrochen und von seinen eigenen Dämonen verfolgt, in der Provinz Penhelyg Zuflucht sucht. Kaum angekommen, spürt Henry die Bedrohung, die das Haus umgibt. Doch es sind nicht nur die kahlen Wände oder das karge Land, die den Leser:innen in ein Gefühl der Beklemmung tauchen – es ist die leise, aber stetig wachsende Ahnung, dass hier etwas lauert, das sich jenseits des Sichtbaren befindet.

Wie eine sorgsam komponierte Melodie, die sich langsam in ihrer Intensität steigert, entwickelt sich die Spannung unter der Feder Stokes-Chapmans. Es ist keine Geschichte, die mit plötzlichen Schockmomenten arbeitet; vielmehr entfaltet sich das Unheil schleichend, bis es die Leser:innen unaufhaltsam in seinen Bann zieht. Die unheilvollen Geräusche in den dunklen Gängen, die kalte Präsenz, die Henry verfolgt – all dies baut ein beunruhigendes Netz aus Details, das uns in die Tiefen dieser unheimlichen Welt führt.

Die Handlung entfaltet sich aus den Perspektiven zweier Figuren: Die erste Stimme gehört Henry Talbot, dem gescheiterten Arzt aus London, der seine Fehler in der Isolation von Plas Helyg begraben will. Doch das Schicksal hat anderes mit ihm vor, und bald muss er sich nicht nur seinen inneren Dämonen stellen, sondern auch den dunklen Geheimnissen des Anwesens. Die zweite Stimme ist die von Linette Tresilian, der rechtmäßigen Erbin von Plas Helyg, welche sich in einem Netz aus Macht und Unterdrückung wiederfindet. Als Tochter von Gwenllian Tresilian hätte sie das Anwesen nach dem Tod ihres Vaters erben sollen, doch das Schicksal wendet sich gegen sie, da ihre Mutter von einer mysteriösen „Malady“ befallen ist. Diese Krankheit, die Gwenllian als „verrückt“ erscheinen lässt, nimmt nicht nur ihrer Tochter den Anspruch auf das Erbe, sondern öffnet auch die Tür für die finstere Macht von Lord Julian Tresilian, einem entfernten Verwandten, der daraufhin die Kontrolle über Plas Helyg übernimmt.

In dieser düsteren Atmosphäre entfalten sich die Geschichten zweier Charaktere, deren Schicksale untrennbar miteinander verwoben sind. Henry Talbot kommt nicht nur mit seiner eigenen Vergangenheit in Konflikt, sondern gerät auch in die Intrigen des Hauses und seiner Bewohner:innen. Linette hingegen, von Lord Julian kontrolliert und unterdrückt, wehrt sich mit unbändigem Willen gegen die starren gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit. Ihre Entschlossenheit und ihre Rebellion gegen die Machtstrukturen von Plas Helyg stehen in starkem Kontrast zu Henrys innerer Zerrissenheit, der sich nicht nur seinen eigenen Dämonen stellen muss, sondern auch den dunklen Geheimnissen des Anwesens.

Während Linette gegen die Unterdrückung durch Lord Julian kämpft und sich gegen die Erwartungen der Gesellschaft auflehnt, sieht Henry sich gezwungen, hinter die Fassade von Plas Helyg zu blicken – und er erkennt, dass die Geheimnisse des Hauses untrennbar mit Linettes Schicksal verknüpft sind. Ihre Perspektiven ergänzen sich auf faszinierende Weise: Während Linette sich nach Freiheit und Selbstbestimmung sehnt, ringt Henry mit seiner Vergangenheit und der dunklen Macht um Plas Helyg. So entstehen zwei starke Stimmen, deren persönliche Kämpfe und übernatürliche Bedrohungen untrennbar miteinander verbunden sind.

Hardcover The Shadow Key
Bild: Vivien Sophie Schröder

Das Haus Plas Helyg selbst wird in Stokes-Chapmans Erzählung zu einer lebendigen Figur und verstärkt die beklemmende Atmosphäre, die den Roman durchzieht. Lord Julian Tresilian, nicht nur als Linettes Vormund und Verwalter des Anwesens, sondern auch als Henrys Dienstherr, verkörpert diese unheimliche Macht. Sein kühler Blick und seine undurchdringliche Präsenz scheinen über allem zu thronen, was in Plas Helyg geschieht. Doch es sind nicht nur die offensichtlichen Bedrohungen, die die Spannung aufrechterhalten – es ist der unterschwellige Verdacht, dass Linette, wie ihre Mutter, von einer mysteriösen „Malady“ befallen sein könnte, der sich durch die Geschichte zieht wie ein dunkler Faden, der jedoch mit der Zeit an Festigkeit verliert.

Es ist die Kunst Stokes-Chapmans, diese psychologische Tiefe in ihre Figuren zu weben, die dem Roman seine eindringliche Intensität verleiht. Henry ist kein strahlender Held; seine Schwächen, seine Zweifel und seine schmerzhafte Vergangenheit machen ihn umso menschlicher. Seine Kämpfe sind real, greifbar, und sie bringen ihn auf den Pfad, der ihn schließlich zu den finsteren Wahrheiten führen wird, die unter der Oberfläche von Plas Helyg lauern. Linette dagegen, deren rebellischer Geist den  Dorfbewohner:innen Vertrauen und Zuversicht gibt, ist eine Lichtgestalt inmitten der Dunkelheit, die mit jeder Seite an Tiefe und Komplexität gewinnt. Sie lehnt sich gegen das Schicksal auf, das ihr aufgezwungen wurde, und ringt um ihre Freiheit in einer Welt, die von Männern beherrscht wird.

Ein weiteres Highlight des Romans ist die gelungene Verknüpfung von walisischer Folklore und der realen Geschichte. Wie eine Art Geister, die durch die Gänge von Plas Helyg wandeln, dringen die Schrecken der Vergangenheit immer wieder in die Gegenwart ein. Stokes-Chapman spielt virtuos mit diesen Elementen, und die Leser:innen können sich nicht sicher sein, was echt und was nur Einbildung ist. Dabei werden die Grenzen zwischen Realität und Aberglauben immer durchlässiger, je tiefer Henry und Linette in das Labyrinth aus Lügen, Geheimnissen und dunkler Magie eindringen.

Was The Shadow Key besonders macht, ist auch die bildhafte Sprache, die den Roman durchzieht. Die düstere Landschaft, die walisischen Berge, das kalte Anwesen Plas Helyg, die ablehnende Haltung der Bewohner:innen von Penhelyg – all dies wird so lebendig beschrieben, dass man den Nebel auf der Haut spürt, den fauligen Atem des Vergangenen in der Luft riecht und das unheimliche Knistern der Atmosphäre hört.

Susan Stokes-Chapman selbst hat mit ihrem Debüt Pandora* Aufmerksamkeit erregt und zeigt in The Shadow Key, dass sie eine meisterhafte Erzählerin ist, die nicht nur historische Genauigkeit, sondern auch eine unvergleichliche Atmosphäre zu schaffen weiß. Sie versteht es, die Leser:innen in eine längst vergangene Zeit zu entführen und dabei die Grenzen zwischen Realität und Aberglauben verschwimmen zu lassen. Die düsteren, poetischen Beschreibungen des Anwesens und der walisischen Landschaft tragen zur unheilvollen Atmosphäre bei. Die Autorin zieht die Leser:innen langsam in das Geheimnis hinein, ohne jemals das Tempo zu überstürzen. Es ist diese langsame, fast unmerkliche Eskalation der Spannung, die The Shadow Key zu einer idealen Lektüre für lange, nebelige Herbstabende macht.

Wer also auf der Suche nach einer tiefgründigen, atmosphärischen und spannenden Lektüre ist, die perfekt zur „Spooky Season“ passt, wird mit The Shadow Key auf jeden Fall fündig. Die düsteren Geheimnisse von Plas Helyg warten nur darauf, gelüftet zu werden – und dabei sorgen die Charaktere, der Ort und die walisische Folklore für eine fesselnde Reise in die Schatten.


Titel: The Shadow Key

Autorin: Susan Stokes-Chapman

Verlag: Penguin Random House / Harvill Secker

ISBN: 978-1-787-30290-7

Erstveröffentlichung: 18. April 2024

 

*Obwohl The Shadow Key bisher nur auf Englisch erschienen ist, nährt die Veröffentlichung von Pandora in deutscher Übersetzung die Hoffnung, dass auch dieses geheimnisvolle zweite Werk bald seinen Weg in die deutsche Buchwelt findet und neue Leser:innen in seinen düsteren Bann zieht

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