von Sophia Miller // Illustration von Lara Kaminski
Im Jahr 1981 treten in den USA die ersten Fälle von seltenen Infektionen und Krebsgeschwülsten in vorher gesunden, homosexuellen Männern auf.
Von Anfang an ist klar, dass die LGBTQIA+-Community weitestgehend auf sich allein gestellt ist. Es dauert lange, bis die Medien die Erkrankung aufgreifen. Der Großteil der Aufklärung kommt von Betroffenen selbst. Einer dieser Menschen ist ein Pfleger aus San Francisco, Bobbi Campbell, der im Dezember ´81 eine Kolumne in einer kalifornischen Schwulenzeitung über seine Erkrankung schreibt. Er veröffentlicht Fotos seiner Hautveränderungen und ruft Betroffene dazu auf, sich behandeln zu lassen. Campbell stirbt 1984 im Alter von 32 Jahren. Er ist einer von vielen Aktivist:innen, deren persönlicher Einsatz die AIDS-Epidemie prägt und verändert.
Ende des Jahres 1981 gibt es 337 Fälle, 130 davon sind bereits verstorben, und die Erkrankung hat noch keinen Namen. Im September des nächsten Jahres passiert es endlich: das Center for Disease Control (CDC) des amerikanischen Gesundheitssystems benennt dieses neue Syndrom: AIDS.
Aber was ist AIDS?
AIDS – Aquired Immunodeficiency Syndrome – ist eine Erkrankung, die durch die Infektion mit dem Humanen-Immunodefizienz-Virus (HIV) hervorgerufen wird. Übertragen wird HIV über Schleimhautverletzungen beim Geschlechtsverkehr oder über Blut. HIV ist ein Retrovirus, das heißt: er schreibt sein genetisches Material in das menschliche Genom ein. Das führt dazu, dass AIDS erst Jahre nach der Infektion mit dem HI-Virus ausbricht. Das bedeutet auch, dass jemand HIV-positiv sein kann, ohne dabei AIDS zu haben. AIDS ist ein schwerer Immundefekt. Betroffene leiden an immer wiederkehrenden Infektionen, u.a. durch Erreger, an denen ein gesunder Mensch nicht erkrankt. Das schwächt die Erkrankten und führt nach einiger Zeit zum Tod.
Es dauert nicht lange, bis aus vereinzelten Fällen eine Epidemie wird. Während im Jahre 1982 in den USA 853 Menschen an AIDS sterben, sind es 1985 schon 5.636 und am Höhepunkt der Todesfälle im Jahr 1995 bereits 48.371 Tote.
Aktivismus
In dieser Situation werden die ersten Betroffenen aktivistisch tätig. Ein früher Punkt des AIDS-Aktivismus sind die sogenannten „Denver Principles“, ein Grundsatz formuliert von AIDS-Erkrankten im Jahre 1983. Entscheidend für das Selbstverständnis von Menschen mit AIDS auf der ganzen Welt, möchte ich daraus zitieren:
“We condemn attempts to label us as „victims“, a term which implies defeat, and we are only occasionally „patients“, a term which implies passivity, helplessness, and dependence upon the care of others. We are „People With AIDS.“ [1]
Frei übersetzt: Wir sehen uns nicht als „Opfer“ von AIDS und nur manchmal sind wir AIDS-Patient:innen. Wir sehen uns nicht als hilflos oder bedürftig. Wir sind Menschen mit AIDS.
In den vier Jahren nach der Formulierung der „Denver Principles“ rückt AIDS mehr und mehr ins öffentliche Bewusstsein. Ein großer Faktor dabei sind bekannte Persönlichkeiten. Ein Beispiel ist Hollywood-Schauspieler Rock Hudson, dessen Tod an AIDS 1985 die ganze Welt schockiert. Nach seinem Tod verdreifacht sich die Erwähnung von AIDS in öffentlichen Medien innerhalb von sechs Monaten. Andere bekannte HIV-positive Persönlichkeiten sind Künstler Keith Haring, Musiker Freddie Mercury und Basketballspieler Magic Johnson.
Innerhalb der Gemeinschaft der Menschen mit AIDS wird zu dieser Zeit ein Unterstützungsnetzwerk aufgebaut. Viele Erkrankte verlieren den Rückhalt von Familie und Freunden aufgrund der Stigmatisierung, die mit der Diagnose einhergeht. Diese Rolle erfüllen Mitglieder der LGBTQIA+-Community. In den ersten Jahren dominiert Schock und Überforderung. Die meisten Betroffenen sind überzeugt, dass es bald eine effektive Behandlung gibt. Aber die kommt nicht.
Als Reaktion darauf wird 1987 die „AIDS Coalition to unleash Power“ – kurz: „ACT UP“ – gegründet. Wenige Tage nach der Gründung blockieren 250 Protestierende von ACT UP die New Yorker Wall Street, eine von vielen Aufsehen erregenden Protestaktionen, die auf die Krise aufmerksam machen. Bekannt wird ACT UP durch die sogenannten „Dieins“, bei denen Aktivist:innen sich totstellen und sich von der Polizei wegtragen lassen. In einer weiteren Aktion werfen Angehörige von AIDS-Toten deren eingeäscherte Überreste auf das Grundstück des Weißen Hauses. Innerhalb kurzer Zeit ist ACT UP aus dem öffentlichen Bewusstsein kaum wegzudenken.
AIDS wird früh gesellschaftlich als Erkrankung weißer Männer, die Sex mit anderen Männern haben, charakterisiert – obwohl Frauen, POC und i.v.-drogenkonsumierende Menschen nahezu ebenso viel daran erkranken. Das Vorurteil von AIDS als „Schwulenkrankheit“ schwappt auch in die Wissenschaft über. Es dauert bis 1990, bis spezifisch weibliche Symptome wie Gebärmutterhalskrebs in der offiziellen Definition miteinbezogen werden. Im Jahre 1990 sterben doppelt so viele weiße Frauen an AIDS als weiße Männer und Frauen of Color sogar zehnmal so oft.
Auf medizinischer Ebene protestiert ACT UP unter dem Aufruf „Drugs into bodies“ das langsame Vorankommen der klinischen Forschung und erzielt dabei auch Fortschritte. Aber während viele weiße Männer von den Studien profitieren, sind es oft die Menschen, die AIDS am stärksten betrifft, die kaum repräsentiert werden: FLINTA+, POC und besonders die Menschen, die durch die AIDS-Erkrankung Lebensunterhalt und Unterkunft verlieren.
Auch in Antwort auf das Versagen von klinischen Studien, eine diverse Bevölkerungsgruppe zu behandeln, wird in ACT UP mehr und mehr die Forderung von Zugang zu noch nicht zugelassenen Medikamenten laut. Diese Anwendung wird „Compassionate Use“ oder „Expanded Access“ (E.A.) genannt und ist heutzutage ein gesetzlich zugesichertes Recht.
Was ist Expanded Access?
E.A. – deutsch: „Erweiterter Zugang“ oder „Härtefallanwendung“ – ist die Anwendung von Medikamenten, bevor sie in Studien bezüglich ihrer Sicherheit und Effektivität geprüft wurden.
Expanded Access ist älter als AIDS. Seinen Beginn haben E.A.-Programme in der Krebsforschung im Jahr 1976. Der Zugang erfolgt damals über das INR – Investigational New Drugs Program. INR wird auch zu Beginn der AIDS-Epidemie genutzt, aber es fällt schnell auf, wie unzureichend das Programm ist.
Das Resultat ist die sogenannte „Parallel track policy“ aus dem Jahre 1989. Die von der FDA (Food and Drug Administration – in den U.S. A. verantwortlich für die Zulassung von Medikamenten) veröffentlichte Programm verankert das Recht von schwer Erkrankten auf die Anwendung noch nicht erprobter Medikamente.
Außerhalb der Vereinigten Staaten ist Frankreich 1994 das erste Land, das E.A. gesetzlich verankert. Es dauert bis 2004, bis E.A. in der EU in der Verfassung verankert wird. Deutschland implementiert es mit der Veröffentlichung der „Arzneimittelhärtefallverordnung“ (AMHV) im Jahr 2010. Stand 2024 gibt es EU-weit über 30 Extended-Access-Programme.
Wieso sollte uns das interessieren?
E.A. ist nur eine von vielen medizinischen Errungenschaften, die wir Aktivist:innen wie Bobbi Campbell verdanken. Aber E.A. gibt Patient:innen Hoffnung, die kaum Behandlungsoptionen haben. Heutzutage ist die Praktik weit verbreitet in der Behandlung von seltenen Erkrankungen sowie Krebs. Auch in der COVID-Pandemie fanden E.A.-Programme Anwendung.
Das Ende einer Epidemie?
Als ACT UP gegründet wird, gibt es bereits ein Medikament gegen AIDS. Zidovudin (Handelsname: Azidothymidine/AZT) kommt im Jahr der Gründung (1987) auf den Markt. Nur ist AZT als Behandlung umstritten – es verursacht schwere Nebenwirkungen und verlängert die Lebenserwartung nur um 6 Monate. Auch können nicht alle Patient:innen das Medikament nehmen. Dazu kommt der Preis. Als AZT auf den Markt kommt, wird es mit 10.000 $ (heute ca. 25.000 $) bepreist. Damals ist es das teuerste jemals vertriebene Medikament.
Aufgrund des Preises ruft ACT UP zu Boykotten des Pharmakonzerns, der AZT herstellt, auf. Und tatsächlich wird der Preis reduziert – auf 8.000 $ im Jahr – immer noch zu viel für einen Großteil der AIDS-Patient:innen. Viele sind nicht einmal krankenversichert, da Versicherungsunternehmen sich weigern, HIV-positive Menschen anzunehmen.
Der Umbruch passiert schließlich im Jahr 1996/97 mit einem Medikament namens HAART – hochaktive retrovirale Therapie. HAART wirkt auf AIDS-Erkrankte wie ein Wunder. Innerhalb kürzester Zeit reduziert es die Viruslast der Betroffenen auf kaum nachweisbare Niveaus. HAART ist tatsächlich eine Kombination aus drei verschiedenen Medikamenten – eines davon das bereits bekannte AZT. Es funktioniert so, dass es die Vermehrung des Virus verhindert und so die Patient:innen praktisch virusfrei sind. Das hat den zusätzlichen Vorteil, dass sie den Virus auch nicht mehr weitergeben können.
In Europa und den USA schlägt HAART ein wie eine Bombe. Die Fallzahlen sowie Todesfälle gehen rasant zurück. Im westlichen Raum scheint die Epidemie bald besiegt. Dazu ist auch wichtig zu erwähnen, dass die AIDS-Erkrankung bei weitem nicht ausgerottet ist. In den USA steigen die HIV-Neuinfektionen wieder an, v.a. in ressourcenschwachen, ländlichen Regionen im Süden, besonders unter Afroamerikaner:innen.
Auf der ganzen Welt gibt es im Moment 40 Mio. HIV-positive Menschen, die meisten davon verteilen sich auf eine Handvoll Länder auf dem afrikanischen Kontinent. Im Jahr 2000 hatte in diesen nur jeder tausendste Mensch mit HIV Zugang zu antiretroviralen Therapien. Heutzutage bewegen sich diese Zahlen zwischen 60-80 %.
Wieso hat ACT UP funktioniert?
ACT UP ist eine, wenn nicht die erfolgreichste Aktivismus-Bewegung der Welt. Aber – wie war das möglich? Und – können wir davon lernen?
Für viele Menschen ist ACT UP eine Gemeinschaft wie sonst keine. Die wöchentlich stattfindenden Treffen bieten Teilnehmenden eine attraktive Konstante in ihrem Leben. Nicht zuletzt birgt der Kontakt mit anderen ACT UP-Mitgliedern wieder die Möglichkeit unbesorgter romantischer und sexueller Kontakte. So ersetzt die ACT UP Gemeinschaft für viele Betroffene das soziale Umfeld, das sie mit der Diagnose verloren haben. Die aktivistische Tätigkeit ist für viele ein Weg, mit dem Trauma der Epidemie umzugehen.
Hinter den Kulissen führt die Fäden der selbsternannte „Science Club“, eine Gruppe von Aktivist:innen, die sich mit der aktuellen Forschung auseinandersetzen. Die Mitglieder des Science Club sind bald so gut informiert über ihre eigene Erkrankung, dass sie sich Gehör unter leitenden Expert:innen in der Forschung beschaffen. So werden sie immer wieder zu wissenschaftlichen Konferenzen eingeladen und bringen eigene Beiträge ein. Sie verändern ganz wesentlich die Wahrnehmung von AIDS-Erkrankten. Durch die Vorurteile, die mit deren gesellschaftlicher Position einhergehen, werden sie von Politik und Wissenschaft praktisch entmündigt, was sich in ihrer Behandlung niederschlägt. Durch den Einsatz des „Science Clubs“ beweisen AIDS-Erkrankte ihre Kompetenz im Umgang mit ihrer eigenen Krankheit und können sich Gehör verschaffen.
Einen ähnlichen Effekt erzielen Mitglieder, als sie beginnen, ihre eigene Geschichte zu schreiben. Gruppen wie DIVA TV und WAVE TV dokumentieren ACT UP vom Herzen des Geschehens und durchbrechen damit die allgemeine Dominanz der Massenmedien in der Berichterstattung über Bewegungen des zivilen Ungehorsams. Die erfassten Videos und Interviews sind bis heute auf „ACT UP – Oral History“ frei zugänglich.
ACT UP hat konkrete Strategien, um ihre Nachricht zu verbreiten. Um ein sicheres Umfeld zu schaffen, sind die unterschiedlichen ACT UP Gruppierungen wieder unterteilt in sogenannte „affinity groups“, kleinere Gruppen, in denen jede:r jede:n kennt: In diesen Gruppen wird Mitgliedern beigebracht, wie sie sich bei Festnahmen zu verhalten haben. Tatsächlich sind ACT UP-Demonstrationen überwiegend friedlich. Im Interview spricht Peter Staley davon, dass die Angst vor einer HIV-Infektion Einsatzkräfte davon abhält, Gewalt auszuüben. Aber auch die öffentliche Meinung spielt eine Rolle. Die amerikanische Gesellschaft steht hinter ACT UP. Die Wut der Aktivist:innen wird als gerechtfertigt eingeschätzt. Selten werden Aktivist:innen zu Haftstrafen verurteilt.
Viele ACT UP Mitglieder profitieren von ihrem eigenen Privileg. Gegründet wurde ACT UP von einer Gruppe weißer, gut-verdienender Cis-Männer. Zu Hochzeiten sind bis zu 80 % der Mitglieder weiße Männer. Viele Mitglieder geraten zu ACT UP aus guten Lebensumständen. In den 80ern scheint die Emanzipation der LGBTQIA+-Community mit Stonewall schon passiert. Viele derer, die ACT UP gründen, haben ein soziales Umfeld, einen festen Job, Zukunftspläne. Es sind Menschen, die sich eigentlich schon als gesellschaftlich integriert sehen, als sie durch ihre AIDS-Diagnose realisieren, dass es die meisten nicht interessiert, ob sie leben oder sterben.
Die resultierende Wut ist überwältigend und vereint sich mit einer Erwartungshaltung an Gesellschaft und Politik, die aus einer weniger privilegierten Gemeinschaft kaum vorstellbar wäre. Dabei setzt sich ACT UP selbst durchaus für die Betroffenen ein, deren Wut nicht anerkannt wird, weil sie eben zu marginalisierten Gruppen gehören. Und innerhalb der Bewegung werden auch viele Stimmen gehört. Trotzdem ist und bleibt ACT UP eine Bewegung einer privilegierten Bevölkerungsschicht und profitiert davon auch wesentlich.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Einzigartig an ACT UP ist nicht nur der große Einfluss, den die Bewegung auf Politik, Gesellschaft und Medizin hatte, sondern auch die Kompromisslosigkeit und Durchsetzungsstärke, mit der dieser durchgesetzt wurde.
[1] „Denver principles” PDF von UNAIDS https://data.unaids.org/pub/externaldocument/2007/gipa1983denverprinciples_en.pdf
Literaturquellen:
T´Hoen, Ellen: “Private Patents and Public Health”, Amsterdam (2016)
Elbaz, Gilbert: “Women, AIDS, and Activism Fighting Invisibility” in “Revue française d’études américaines” (2003)
Jonsen, Albert R. und Stryker, Jeff: “The Social Impact Of AIDS In The United States”, Chapter Four: “Clinical Research and Drug Regulation”, Washington D.C. (1993)
Nichols, E.: “Expanding Access to Investigational Therapies for HIV Infection and AIDS”: March 12–13, 1990 Conference Summary.
Dokumentationen und Podcasts:
Hubbard, Jim und Schulman, Sarah: “United in Anger: A history of ACT UP” (2012)
France, David: “How to survive a plague” (2012)
Bernstein, Matt: “Stories from the AIDS Crisis” in “A bit fruity with Matt Bernstein” (2024)
Bernstein, Matt: “Surviving AIDS in the 80s – interview with Peter Staley” in “A bit fruity with Matt Bernstein” (2024)
Internetquellen:
https://www.unaids.org/en/resources/fact-sheet https://www.aidsactivisthistory.ca/interviews/toronto-interviews/#Adams https://www.newyorker.com/magazine/2021/06/14/how-act-up-changed-america https://www.history.com/news/act-up-aids-patient-rights https://healthland.time.com/2012/09/27/how-to-survive-a-plague-qa-with-act-ups-peterstaley-on-effective-activism/ https://www.hiv.gov/hiv-basics/overview/history/hiv-and-aids-timeline#year-1985 https://www.factlv.org/timeline.htm https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Klinische-Pruefung/CompassionateUse/compUse-tabelle.html https://mytomorrows.com/blog/patients/a-brief-history-of-expanded-access-part-1/ https://mytomorrows.com/blog/healthcare-professionals/a-brief-history-of-expandedaccess-part-2/ https://libwiki.cshl.edu/confluence/display/AT/parallel+track+policy