ein Frühlingsmärchen über den Sinn des Lebens
Text: Sophie Mandic // Illustration: Luca Butt
Die Glockenblume hörte lange und aufmerksam zu und erzählte ebenfalls einige ihrer Lebensgeschichten.
Einmal gab es in einem schönen Garten, der stets gepflegt wurde, eine wunderschöne Glockenblume. Sie blühte stehts bei jedem Wetter und strahlte zu jeder Jahreszeit in schönstem Violett. Sie war vor langer Zeit gepflanzt worden und stand eben dort, wo sie immer stand.
Jedes Jahr pflanzten Menschen zu jeder Jahreszeit Blumen, die eben typisch waren. Neben der Glockenblume waren ständig neue Blumen zu sehen. Zunächst sah man sie nicht. Nach kurzer Zeit war die violette Schönheit von vielen grünen Knospen umgeben. Nach wenigen Wochen erstrahlte der Platz um die Glockenblume in den schönsten Farben, die die Natur zu bieten hatte. Nach wenigen Monaten verging die Farbenpracht und die Glockenblume blieb allein, bis ein eifriger Mensch eine neue Blume zu pflanzen begann.
An einem solchen Tage genoss die schöne violette Blume einige kräftige Sonnenstrahlen. Sie schwelgte in Erinnerungen an die Zeit der letzten Blüte einiger um sie stehenden Blumen, die jetzt nur noch braun am Boden lagen. Sie fragte sich, wann wohl neue Blumen eingepflanzt werden würden, denn sie war die Einzige, die diesen Garten in jeder seiner Füllen und Phasen kannte. Die meisten ihrer Gefährten waren eben nur kurzzeitig zu Gast im Garten und vergingen schnell. Einst hatte sich die Blume gefragt, warum die anderen Blumen so schnell verblühen müssten. Und fast jeden Tag fragte sich die Blume, wie es sich wohl anfühlen würde, zu verblühen. Sie wusste es nicht. Es war ihr ebenfalls unbekannt, wann und ob sie jemals verblühen würde, sterben würde. Doch eine Antwort fand sie nicht. So brachte sie viele Tage und Stunden in der Sonne zu, während sie sich viele Dinge fragte. Viele Dinge, die sich eine violette Glockenblume eben fragte.
An einem Tag kamen Menschen und beseitigten ihre ehemaligen, mittlerweile verblühten Freunde und setzten liebevoll mit sehr geschickter Hand neue Blumen neben die Schönheit in die Erde. Neben der Glockenblume wuchs schnell eine wunderschöne rote Tulpe heran. Die Tulpe begann nach wenigen Tagen zu sprechen. Lauter bunte Sachen erzählte sie der Glockenblume. Die Glockenblume hörte lange und aufmerksam zu und erzählte ebenfalls einige ihrer Lebensgeschichten. Natürlich hatte die Glockenblume deutlich mehr Geschichten zu erzählen als die junge Tulpe. Doch die Glockenblume hörte so gerne zu, also hielt sie sich zurück und genoss die Worte der jungen roten Tulpe. Eines Tages erzählte die mittlerweile gealterte Tulpe einige Worte, über die die Glockenblume bis zum heutigen Tag nur leise nachgedacht hatte. Die Tulpe erklärte, sie sei nun fast fertig in ihrer Blüte und bereit zu gehen, denn sie habe ihren Sinn erfüllt. Die Glockenblume lachte und erkundigte sich nach dem Sinn dieser alten Dame. Die rote Tulpe hatte schnell eine Antwort gefunden und erklärte, ihr Sinn bestünde darin, den Menschen in ihrer kurzen Blüte ein Augenschmaus zu sein. Die violette Blume war verwundert und fragte sich, ob dies ein wahrer Grund des Daseins sein könnte. Denn wäre der Augenschmaus der Tulpe ihr Daseinsgrund, so hätten alle Tulpen den gleichen Grund zu wachsen. Und überhaupt alle Pflanzen mochten in den Augen der Glockenblume ein Augenschmaus sein. An den Sinn der Tulpe glaubte die Glockenblume nicht. Doch obwohl die Glockenblume so dachte, sagte sie nichts, denn sie mochte die rote alte Tulpe so wie sie eben war. Wenige Tage vergingen und das kurze Leben der Tulpe ging zu Ende. Wie sie so braun am Boden lag, dachte die Glockenblume an das kurze Leben und all die viel zu kurzen Erzählungen dieser roten Tulpe. Doch eine Antwort auf Fragen, die sie sich selbst stellte, fand sie nicht.
Wenige Tage später war es Sommer geworden. Es wurden neue Gefährten neben die Glockenblume in die Erde gesetzt. Diesmal stand neben der Glockenblume eine Rose, die aber nicht einfach rot war, sondern weiß. Schneeweiß sah sie aus und sie duftete nach den schönsten Düften, die die Natur zu bieten hatte. Die junge Rose war wunderschön, doch eben so gefährlich. Ihre Dornen waren spitz und wuchsen schnell heran, schneller als die vollkommene Schönheit der Blüte der Rose. Vielleicht waren die Dornen der Rose zum Schutz ihrer Schönheit gedacht, überlegte die Glockenblume. Ihre neue Nachbarin begann schon so bald zu sprechen und pflegte einen sehr vornehmen Ton, anders als die rote Tulpe, die längst vergangen war. Die Rose wählte ihre Worte sehr weise und sprach erheblich weniger Worte mit der Glockenblume als die Tulpe. Die Gespräche zwischen der weißen und violetten Schönheit waren nichtsdestotrotz wunderbar und bereichernd. Auch die Rose erzählte der Glockenblume einst Worte über ihren Sinn des Daseins. Ihr Sinn bestünde darin, mit ihrer Schönheit zu locken, doch die Gierigen zu bestrafen. Ihre Dornen würden sie schützen und Moral lehren, erklärte die Rose. Diese Erklärung kam der Glockenblume sehr logisch vor, logischer als die der Tulpe. Doch wieder störte sie, dass alle Rosen denselben Daseinsgrund haben müssten, denn alle Rosen lockten mit ihrer Schönheit und straften mit ihren Dornen die Gierigen. Die Tage vergingen und nachdem es Herbst geworden war, verabschiedete sich die Rose ebenfalls. Sie lag ganz anders am Boden. Braun aber doch elegant und bewundernswert sah sie aus.
Lange dachte die Glockenblume noch über die weiße Rose nach. Sie dachte vermehrt an ihre Erklärung des Daseins und schlussfolgerte, dass der Daseinsgrund jener Blumenart mit ihrem Aussehen verknüpft war. Jede Blume hatte ein Aussehen, aber ein anderes. Selbst die Blumen gleicher Art sahen leicht anders aus. So läge es nahe, würde dies einen Sinn erfüllen. Doch konnte der Daseinsgrund auf etwas gegründet sein, das eben angeboren war, fragte die Rose. An ihrem Aussehen konnte eine Blume wenig verändern. So dachte die Glockenblume den ganzen Winter nach und noch viele Wochen weiter. Nachdem es allmählich wieder Frühling geworden war, kamen erneut fleißige Menschen und setzten neue Blumen in die kühle Erde. Die Glockenblume freute sich sehr, denn bald würde sie nicht mehr allein sein.
Allzu bald wuchsen neue Blumen um die wunderschöne Glockenblume. Schnell begriff die kluge Glockenblume jedoch, dass ihr neuer Gefährte anderer Art war als alle ihr bekannten. Es wuchs eine viel prächtigere Schönheit heran als alle Prächtigkeiten, die sie bis jetzt erblicken durfte. Es wuchs eine wunderbare Eiche neben der Glockenblume heran. Die Eiche wuchs schnell und begann zeitig zu sprechen. Sie erzählte viele Worte, die die Glockenblume glücklich machten. Viele schöne Stunden brachten sie zu und genossen ihre Geselligkeit. Nach wenigen Wochen begann auch die Eiche über ihren Grund des Lebens zu sprechen. Sie würde lange leben, sehr lange würde sie diesen Garten sehen können, sehr lange würden sie erzählen können, sagte die Eiche. Sehr lange würde auch ihr Wachstum andauern und sehr hoch würde sie wachsen, wie eine Eiche eben wächst, erzählte sie stolz. Durch ihre überaus lange Lebensdauer und ihre enorme Größe, die die Glockenblume nicht gewohnt war, erzählte die Eiche, sei sie gepflanzt worden, um den Menschen zu dienen, um sie zu begleiten. Diese Worte hatte die Glockenblume noch nicht gehört. Sie erkundigte sich nach den Taten, die die Eiche den Menschen schenken könne. Schatten könne sie spenden. Einen Raum schenken, der zu Geselligkeiten einlädt. Eine Möglichkeit sich in den Höhen ihrer auszuprobieren. Halt bieten. Umarmungen schenken. Die Glockenblume war verwundert, so hatte sie die Eiche nicht gesehen. Sie dachte an das wunderbare Grün, in dessen Licht die Krone der Eiche im Sonnenschein erstrahlte. Doch diese Antwort schenkte der violetten Schönheit neue Gedanken. Sie dachte an ihren eigenen Sinn des Daseins. Doch eine Antwort fand sie nicht.
Wenige Monate später war die Eiche weit über die Glockenblume hinausgewachsen. Doch unterhalten konnten sie sich weiterhin. Viele Worte hatten sie ausgetauscht, viele Tage im Sonnenschein gebadet. Als es ein wenig später Herbst geworden war, erstrahlte die Eiche zum ersten Mal in warmen orangenen Tönen. Noch ein wenig später verlor die Eiche zum ersten Mal ihre Krone. Die Blätter fielen zu Boden und schmückten die karge Landschaft um die violette Glockenblume. Die Glockenblume freute sich jeden Tag, jede Woche, jeden Monat die Veränderung ihres großen Freundes mitzuerleben. Schnell wurde die Eiche sehr weise. Sie sprach wunderbare Worte zu der Glockenblume und war ihr ein wahrer Gefährte geworden. So ging es viele Jahre weiter.
An einem Tag merkte die violette Glockenblume, dass ihre Schönheit allmählich zu verblassen begann. Sie strahlte anders, sprach anders. Dies bemerkte auch zeitig ihr treuer Gefährte. Dieser wusste, was auf die Glockenblume zukam. So sprach die Eiche zur Glockenblume: „Deine Zeit ist fortgeschritten und du scheinst in Seelenruhe zu gehen. So sei nicht traurig, ich werde deinen Platz stets im Gedächtnis behalten und jedes deiner Worte in mir tragen, solange ich hier stehen werde. Beantworte nur eine Frage für mich, besser noch für dich. Was scheint dein Grund gewesen zu sein, dass du gepflanzt wurdest und so lange geblüht hast?“ Die Glockenblume sah ihr Schicksal ebenfalls ein und strengte sich ein letztes Mal an, um über die Frage ihres Freundes nachzudenken. So oft und so lange hatte sie angestrengt nachgedacht, doch nie eine Antwort gefunden. Doch so angestrengt sie immer gedacht hatte, kam ihr heute eine Antwort zugeflogen. Sie sagte entschlossen und wissend, dass es ihre letzten Worte waren: „All die Zeit habe ich gedacht, mein Aussehen müsse mein Grund für meine lange Lebensdauer sein. Meine Schönheit ist zwar präsent, doch sie ähnelt den Schönheiten jener Blumen, die diesen Garten einst aufsuchten. So sehe ich heute, dass mein Grund einzig und allein meiner Freundschaft zu anderen Blumen galt. Ich war all die Jahre ein treuer Begleiter vieler Blumen gewesen und war stets wieder allein gelassen worden. Doch darin bestand alle Zeit mein Grund des Lebens. So kamst du in meinen Garten und nahmst mir diese Aufgabe ab. Du wirst nun, mein treuer Gefährte, nicht nur ein Freud der Menschen sein, sondern auch ein Freud anderer Blumen, die noch in diesen Garten kommen werden.“
Nachdem die violette Schönheit diese Worte gesprochen hatte, entfärbten sich schlagartig ihre Blüten und sie fiel in sich zusammen. Gerührt von diesen letzten Worten seiner Freundin bekam die Eiche ein violettes Blatt. Die violette Schönheit lebte in ihrem Freund weiter und war von diesem Tag an allen neuen Blumen weiterhin ein wunderbarer Begleiter.