Oder: Warum studieren, wenn wir sowieso bald sterben?
Der philosophische Essay eines chronischen Overthinkers // Foto: Vanessa Stöter
Menschen sind sterblich. Egal in welchem Land, unabhängig von Ethnie, Sexualität, Religion und Geschlecht. Der Lebensweg führt immer zu einer Endstation: dem Tod. Aus diesem Grund sind wir stets darum bemüht, „das Leben zu genießen, solange wir können“. Doch wozu das Ganze? Woher wissen wir, dass wir unsere kostbare Zeit nicht verschwenden? Mit dem Studium zum Beispiel – immerhin verbringen wir Jahre damit, Fachtermini auswendig zu lernen, Tabellen abzuschreiben, Bücher zu wälzen und Statistiken auszuwerten. Dabei rückt unser Verfallsdatum ständig näher. Warum also studieren, wenn wir sowieso bald sterben?
Um diese Frage beantworten zu können, muss zunächst eine andere geklärt werden: Was ist der Wert unseres Daseins, das letzte Ziel, der Zweck, der über all unseren Entscheidungen steht? Kurzum: Worin besteht der Sinn des Lebens? Und welche Rolle spielt Bildung in diesem Kontext – eine Frage, die die Menschheit seit jeher beschäftigt. Über die Jahrhunderte hinweg etablierten sich die verschiedensten Theorien, Antworten und Überlegungen zu diesem Thema.
Lange Zeit wurde der Sinn des Lebens über den Glauben definiert. Dieser geht mit dem Vertrauen einher, dass es etwas Größeres geben solle als die Menschheit – Gottheiten, Naturmächte oder andere überirdische Instanzen. Diese Großartigkeiten treten von Religion zu Religion unterschiedlich auf: als Schöpfer, Bändiger, Machtinhaber oder Richter. Unsere Freiheiten und Pflichten sind eng mit ihnen verknüpft. Werte und Ideale der jeweiligen Religion geben eine Richtung vor, einen Weg, der eine Orientierung durch das Lebenslabyrinth bieten soll. So gibt es diejenigen, die glauben, dass das Leben eine Probe Gottes sei, die Prüfung derer sich jeder Mensch auf dem Weg zu Himmel oder Hölle unterziehen müsse. Andere Weltanschauungen verschreiben sich divergenten Lebenszielen. Sie sind mit dem Vertrauen verbunden, dass das Leben einen tieferen Sinn habe, auch wenn dieser für uns Sterbliche bisher nicht ersichtlich ist. So heißt es im Hinduismus beispielsweise, dass nur unsere Körper sterben, nicht aber die Seele. Diese kehrt in einen neuen Leib, welcher nach dem Prinzip des Karmas gewählt würde.
So gibt es unzählige Varianten des Glaubens, die überall auf der Erde verbreitet sind. Bildung bedeutet in diesem Kontext Vermittlung wichtiger Grundsätze. Um nach den Idealen der Götter/des Gottes leben zu können, müssen die Menschen über jene Grundsätze aufgeklärt werden. Wie sollen sie beispielsweise sonst nach den zehn Geboten handeln, wenn sie sie nicht kennen? Um dies zu bewerkstelligen, gibt es im Christentum das Theologiestudium.
Doch nicht alle Menschen sind gläubig. Es muss daher auch für jene ein Lebensziel geben sowie einen Grund, das Studium anzutreten. Die Ansätze dafür sind verschieden. Ein zentraler Begriff ist die Rassenerhaltung. Seit es Leben auf der Erde gibt, gilt das Prinzip „survival of the fittest“, nach dem sich jede existierende Spezies im Kampf ums Überleben, der natürlichen Auslese, behaupten muss. Der Mensch als Mängelwesen hat folglich die Pflicht, sich durch seine Intelligenz und das Handwerkstalent in der Selektion der tauglichsten Lebewesen zu beweisen.
Doch wenn es allein darum ginge, wäre so vieles, das uns Menschen auszeichnet, wertlos. Wenn es nur darauf ankommt, sich fortzupflanzen und Nachwuchs zu zeugen – wozu benötigen wir dann Freundschaft, Politik, Kultur, Philosophie, Kunst und Co.? Vielleicht suchen wir ja einen Sinn in Dingen, in denen es keinen Sinn zu finden gibt. Dies ist tatsächlich eine Theorie, der sich einige Menschen verschrieben haben.
„Also die Vorstellung von einem verborgenen Sinn, der irgendwie da ist, den wir aber nicht erschließen können, diese Vorstellung finde ich recht dubios.“
In dem modernen literarischen Klassiker „Nichts – Was im Leben wichtig ist“ von Janne Teller wird der Leserschaft sogar eine noch radikalere Idee der Bedeutungslosigkeit vermittelt, wenn der kleine Pièrre Anton verkündet: „Alles ist egal (…). Denn alles fängt nur an, um aufzuhören. In demselben Moment, in dem ihr geboren werdet, fangt ihr an zu sterben.“ Demnach ist weder die schulische Bildung noch das Studium wirklich von Bedeutung – ja nicht einmal die Entscheidung dafür oder dagegen.
Ebenso absurd scheint in diesem Kontext das Erinnern. Denn wozu sollten wir uns an Persönlichkeiten, Forschungsergebnisse usw. erinnern, die doch eigentlich keinerlei Bedeutung haben. Ist das Studium letztendlich nur eine sinnlose Wanderung durch die Memoiren toter Artgenossen? Auch Hazel Grace aus dem Roman „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ von John Green ist dieser Ansicht.
„Es kommt die Zeit, da wir alle tot sind. Wir alle. Es kommt die Zeit, da es keine Menschen mehr gibt, die sich erinnern können, dass je irgendwer von uns existiert hat oder dass unsere Spezies je irgendwas geleistet hat. (…) Und wenn es die Unausweichlichkeit des menschlichen Vergessens ist, die dir Angst macht, dann rate ich dir eins: Ignorier sie einfach.“7 Nichts leichter als das. Oder?
Es gibt auch Gegenargumente, die man den pessimistischen (oder realistischen?) Pièrre Antons und Hazel Grazes unter uns entgegenbringen kann. Der Philosoph Friedrich Nietzsche findet einen Kompromiss, indem er von dem „Übermenschen“ spricht, da die Welt objektiv betrachtet tatsächlich von völliger Sinnlosigkeit erfüllt sei. Auf Grund dessen sei der Lebenssinn nur in uns selbst auffindbar. Im Nihilismus spricht man von eigenen, individuellen Werten, die das Handeln und Entscheiden unsereins bestimmen.
Zusammengefasst hieße das, dass die wahre Frage nicht „Was ist der Sinn des Lebens?“ sondern „Was ist er Sinn meines Lebens?“ lautet. Eine Frage, die ihrerseits ein Fass ohne Boden sein kann. Wo kann ich meinen Sinn finden?
Für manche kristallisiert sich das Ziel der Glückseligkeit heraus. Aristoteles selbst bezeichnete die Glückseligkeit als höchstes aller Güter. Es gebe nichts, das über ihr stehe. Sie sei die vollkommenste Vollendung. Erlangt werden kann diese Vollendung simplerweise über das Befriedigen von Bedürfnissen. Jedoch ist unsere Gesellschaft so konstruiert, dass wir unsere Bedürfnisse nicht ohne weiteres stillen können. Ein Faktor, von dem dies abhängig ist, ist die finanzielle Lebensgrundlage, welche wiederum eng mit der Arbeitsstelle verknüpft ist. Indes liegt der Ausübung eines Berufes die Voraussetzung der Qualifikation zugrunde, die durch Bildung gewährleistet werden muss. Institutionen, die sich diesem Dienst verschreiben sind u.a. Unis und Hochschulen, wo angehende Jurist*innen, Lehrer*innen oder Mediziner*innen ihre Lebensgrundlage schaffen.
Nun könnte man jedoch auch meinen, dass Glückseligkeit mittels des Auslebens einer Leidenschaft erreicht werden könne. Für manche Menschen bedeutet diese Leidenschaft das Ausleben von Wissbegier, Karriere oder das Erlangen des Traumjobs. Auch hierfür bietet sich das Studium an.
Andererseits ist es nicht zwingend notwendig, dass Glückseligkeit den persönlichen Wert des Daseins definiert. Immerhin haben wir auch Pflichten, die der Mensch als Qualität seiner Rasse sieht. Der Drang, in Erinnerung bleiben zu wollen, etwas Nachhaltiges zu hinterlassen, befähigt uns zu Errungenschaften, die auch über unseren Tod hinaus bestehen bleiben – und sei es nur für jene Generationen nach uns. Manche dieser Hinterlassenschaften ordnen wir als schädlich ein – man denke nur an den ökologischen Fußabdruck – während andere als Erfolg gewertet werden. Doch sind insbesondere Errungenschaften der Wissenschaften kaum möglich ohne das nötige Basiswissen. Auch dieses muss erst erlernt werden – mittels eines Studiums beispielsweise.
Weiterhin kann das Sammeln von Erfahrungen als Lebenssinn aufgefasst werden. Im persönlichen Kontext, damit wir wie Julia Engelmann sagen können, dass wir unser Leben genießen.
„Denn das Leben, das wir führen wollen, das können wir selber wählen. Also lass uns doch Geschichten schreiben, die wir später gern‘ erzählen. (…) Der Sinn des Lebens ist leben. (…) Unsere Zeit, die geht vorbei. Das wird sowieso passieren. Doch bis dahin sind wir frei (…). “
Aber soll es das gewesen sein? Genießen, solange wir können? Dann ist es vielleicht besser, wilde Abenteuer zu bestreiten, statt bis spät in die Nacht zu büffeln. Oder müssen wir studieren, um nicht nur eigene Erfahrungen zu sammeln? Müssen wir erhalten, woran andere sich erinnern, festhalten an den Erkenntnissen, die es schon gibt? Vielleicht ist es ja der Sinn des Lebens, nicht nur persönlich als Individuum sondern gemeinsam als Menschheit zu wachsen? Aus einem fiktiven Gespräch zwischen Gott und einem Verstorbenen verfasst von Andy Weir tritt diese Idee besonders deutlich hervor:
“‘Der Sinn des Lebens, der Grund, warum ich dieses ganze Universum erschaffen habe, ist, dass du erwachsen wirst.‘
‚Du meinst die Menschheit? Willst du, dass wir reifen?‘
‚Nein nur Du. Ich habe dieses ganze Universum für dich gemacht. Mit jedem neuen Leben wächst und reifst du und wirst zu einem größeren und größeren Intellekt.‘
‚Nur ich? Was ist mit allen anderen?‘ ‚Es gibt keinen anderen‘, sagte ich.“
Diese Einstellung ist auch in der Thora im Judentum verankert. Die Seele müsse viele Erfahrungen sammeln um weise zu werden. Oft sei das in einem einzigen Leben aber gar nicht möglich. Daher lässt Gott manche Seelen auf eigenen Wunsch noch einmal auf die Erde zurückkehren, sodass sie in neuen Körpern reifer werden.
Natürlich ist es aber auch möglich als Atheist*in, das Sammeln von Erfahrungen als Sinn des Lebens zu erachten. Mittels Aufklärung und Bildung lassen sich in kurzer Zeit eine Menge Erfahrungen sammeln, sogar solche, die längst vergangen sind – ein weiterer Grund, der für das Besuchen einer Universität oder das selbstständige Recherchieren spricht.
Letztendlich könnte man derartige Gedanken in nahezu jede Richtung ausweiten. Jean Paul Sartre beschreibt dies im Existenzialismus wie folgt: Am Anfang steht immer die Existenz des Menschen. Die Essenz dieser Existenz, also dasjenige, was die Rasse Mensch ausmacht, ist frei. Unser Wesen ist nicht zweckorientiert geschöpft worden. Wir Menschen haben die Pflicht, aber auch das Privileg, diese Essenz zu gestalten. So müssen wir auch unsere Ziele eigenständig definieren. Wie sich der Sinn der Bildung und des Studiums darin einbetten lässt, ist abhängig von unserer eigenen Definition der Essenz. Klingt das nicht plausibel? Selbstdefinierte Essenz? Aber ist diese Antwort überhaupt befriedigend oder entspricht sie nur der Unwissenheit und Übergangslösung einer Antwort auf die Sinn-des-Lebens-Frage? Wir wollen den großen Plan erkennen, nicht irgendetwas Kleines erfinden müssen, um uns die eigentliche Sinnlosigkeit einzugestehen. Doch folgen wir kurz dem Gedanken, dass wir möglicherweise einfach akzeptieren müssen, dass uns die Suche nach dem Sinn als Spezies Mensch auszeichnet. Wir sind möglicherweise die einzigen Wesen, die sich überhaupt nach einem Sinn sehnen.
In dem Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ ist die Antwort eines Supercomputers auf die Frage nach dem Sinn des Lebens nach siebeneinhalb Millionen Jahren Rechenzeit schlichtweg die Zahl 42. Wenn die Idee von einem Sinn des Lebens also nur eine von Menschen gemachte Frage darstellt, die weder von Maschinen noch von anderen Lebensformen gestellt wird, ist es nur legitim, dass wir sie persönlich beantworten.
Was ist nun also die Antwort? Sollten wir studieren, obwohl wir bald sterben werden? Der Besuch einer Hochschule ist nicht verpflichtend, womit abzuwägen ist, ob der Mehrwert dessen zur Erfüllung des Lebenszieles beiträgt. Für manchen mag es die Zeit nicht „sinnig“ füllen. Nichtsdestotrotz lässt sich feststellen, dass die Entscheidung studieren zu gehen, nicht partout falsch ist, da es den Lebensweg bereichern kann. Der Weg ist bekanntlich das Ziel, wie es im Volksmunde heißt. Auch wenn am Ende des Weges eine Kapuzengestalt steht, die uns an den Kragen will. Denn was wäre unser Handeln, Entscheiden und Denken sonst wert, wenn am Ende nur das Ergebnis zählt?
Literatur:
- Adams, Douglas: Per Anhalter durch die Galaxis. 2017. 1. Onlineauflage.
- Beitmann, Bert: Der Mensch ein Mängelwesen. Philosophie 1. Fragen und Gedanken.
- Engelmann, Julia: One Day. 5. Bielefelder Hörsaal-Slam. Campus TV 2013.
- GeolinoExtra: Weltreligionen. Nr.55.
- Glueck: Glueck Philosophie.gym-hartberg.ac.at. 10.01.2021.
- Green, John: Das Schicksal ist ein mieser Verräter. München, 2012. 16. Auflage. Seite 19f.
- Herder: Sinn des Lebens. Philosophisches Lexikon. Herder.de. 07.01.2022.
- Praefaktisch: Wer fragt nach dem Sinn des Lebens?. 09.01.2022.
- Prof. Hübner, Johannes : Was ist der Sinn des Lebens?. MDR.DE. 10.01.2021.
- Statista: Lebenserwartung in Deutschland bis 2060. 08.11.2021.
- Teller, Janne: Nichts. Was im Leben wichtig ist. München, 2010. 3. Auflage. Seite 11.
- Weir, Andy: Das Ei. Eine Kurzgeschichte. Diezukunft.de. 10.01.2022.