Wenn uns ein Märchenroman den Spiegel vorhält (oder ein Echo singt)
Text: Vanessa Stöter // Illustration: Lara Kaminski
Es gibt wohl kaum einen Schriftsteller der deutschsprachigen Fantastik, der die Stimmungsantenne effektiver anfunken kann als Walter Moers. Er ist der Erfinder des fiktiven Kontinents Zamonien und gilt als viel besprochen und gelesen. Moers‘ Werke stehen nicht selten auf den Bestsellerlisten. Viele Kinder sind mit ‚Käpt’n Blaubär‘ aufgewachsen, dessen (fiktive) Autobiographie im erstem Zamonien-Roman Die 13,5 Leben des Käpt’n Blaubär verschriftlich wurde. In seiner Bibliografie verstecken sich neben Bücherdrachen, haarsträubenden Autobiographien und verschriftlichten Träumen allerdings auch einige Märchenromane. Dazu gehört zum Beispiel die abgewandelte Version von Grimms wohl berühmtesten Geschwisterpärchen Hänsel und Gretel in Ensel und Krete. Doch auch das weniger populäre Volksmärchen Spiegel, das Kätzchen, geschrieben von Gottfried Keller, wird von ihm neu erzählt und ist einen Schnuff mehr Aufmerksamkeit wert als es bisher bekommt. In Der Schrecksenmeister hält uns der Autor den Spiegel unserer Völlerei vor, sodass es ein Echo im Denken hinterlässt. Ein deftiges Buch, das zu sättigen weiß. Inwiefern? Lest selbst.
Märchen-mit-Moers
Märchen üben seit jeher eine Faszination auf die Menschen aus. Sie sind feste Bestandteile der deutschen Literaturgeschichte und umfassen weitaus mehr als die Texte der Gebrüder Grimm. Beschäftigt man sich mit bekannten Schriftstellern wie Theodor Storm, Gotthold Ephraim Lessing, E.T.A. Hoffmann und Gottfried Keller entdeckt man zahlreiche Kunst- und Volksmärchen in ihrem literarischen Vermächtnis. Auch heute sind Märchen brandaktuell – weltweit finden moderne Sammlungen und Märchenadaptionen ihr Publikum – so auch in Deutschland. Der vielfach aus gezeichnete Autor Walter Moers veröffentlichte bereits verschiedene Romane, die als Märchenromane verkauft werden. Dazu gehört Der Schrecksenmeister “Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von Gofid Letterker[;] Neu erzählt von Hildegunst von Mythenmetz[;] Aus dem Zamonischen übersetzt und illustriert von Walter Moers”. Das Anagramm ‚Gofid Letterkerl‘ steht hierbei für Gottfried Keller, den Verfasser des Volksmärchens Spiegel, das Kätzchen. Wie schon in Die Stadt der träumenden Bücher abstrahiert Moers bekannte deutsche Schriftsteller und lässt sie in seiner fiktiven Welt auftauchen.
Gottfried Kellers Original spielt in der fiktiven Stadt Seldwyla, in der ein hungernder Kater namens Spiegel einen Vertrag mit dem Stadthexenmeister Pineiß eingeht, der diesen dazu berechtigt, den Kater zu mästen und binnen des nächsten Vollmondes zu töten. Ein Kater, ein Zauberer, ein Pakt. Der Protagonist versucht diesem Schicksal zu entrinnen.
Walter Moers übernimmt diese Handlung, schmückt sie jedoch wunderbar ausschweifend aus. Im Kern geht es um eine hungernde Kratze (nein, hier liegt kein Fehler vor, es ist tatsächlich eine Kratze) mit Namen Echo, die dem Schrecksenmeister Eißpin, ihr Fett verspricht. Im Gegenzug füttert jener Schrecksenmeister sie mit den feinsten Speisen, aber im Vertrag steht eine Frist. Echo sucht ebenfalls einen Weg, um den Pakt aufzulösen.
Meisterhaftes Erzählen und kratzbürstige Satire
In beiden Werken treten mehrere Ebenen von Geschichten innerhalb anderer Geschichten auf. Kellers Erzählstimme im Originalmärchen nutzt die Handlung rund um Spiegel, um ein Sprichwort Seldwylas zu erläutern. Moers‘ Märchenroman hingegen beinhaltet durch die Nutzung eines fiktiven Autors, die Handlung rund um Echo und die Erzählungen diverser Charaktere mehrere Ebenen, die binnengeschichtlich aufgebaut sind. Sowohl Spiegel als auch Echo zeichnen sich dadurch aus, dass sie sprechende Tiere sind – Katzen – wobei Walter Moers seinen Protagonisten einer eigenen Gattung zuordnet. Echo ist eine Kratze – ein katzenartiges Wesen mit der Fähigkeit zu sprechen, welches zwei Lebern besitzt. Begleitet werden Spiegel und Echo von weiteren Fabelwesen und Tierfiguren. Ein „Schuhu“, „Dämonenbienen“, „ein goldenes Eichhörnchen“ und „Ledermäuse“ beteiligen sich u. a. an Echos Geschichte, während in Kellers Märchen eine Eule zur Helferfigur wird. Zudem sind Flüche in beiden Geschichten von Relevanz ebenso wie magische Gegenstände. In der Vorlage Spiegel, das Kätzchen ist ein solches im „Schnepfengarn“ auffindbar, in Moers‘ Der Schrecksenmeister beispielsweise in der „Schmerzenskerze“: „Diese Kerze […] verbringt ihr ganzes Dasein in außerordentlicher Qual.“
Die zamonische Kunst der Neuerzählung
„Märchen sind weise, ewig und manchmal unerklärlich; dennoch erklären sie viel.“ Diese These stellt Linde von Keyserlingk auf, eine finnische Autorin, die ebenfalls adaptive Geschichten schreibt, womit sie begründet, was die Textgattung Märchen so attraktiv macht. Die Weisheit steckt in der Moral der Texte. Im Zuge der Adaption ist es möglich, Prämissen zu übernehmen und in einem modernen Gewand zu präsentieren. Im Roman und im Kunstmärchen wird u.a. viel gefuttert. Wie durch das Motiv der Kulinarik ersichtlich wird, sind die Werke rund um Spiegel und Echo Schriftstücke, die Figuren zeigen, die demgemäß zwischen Hunger und Völlerei gefangen sind:
„Mit jedem Schritt ließ er ein Stück von der kranksten Stadt Zamoniens hinter sich, die sich jetzt auf dem Weg der Besserung befand […]. Echo war der Einzige hier, der keinen Hunger hatte.“
Kellers Märchen ist schon im Aufbau darauf konzipiert, eine bestimmte Phrase zu erläutern. Das Sprichwort „Er hat der Katze den Schmer abgekauft“ wird durch die Geschichte auf die fiktive Etymologie zurückgeführt. In der Beantwortung schwingt die generelle Prämisse mit, dass Konsumsucht nicht dem rechten Lebensstil entspricht. Auch in Moers‘ Prosa muss Antagonist und Bösewicht Eißpin sich dieser Lektion beugen.
Wie bei Keller sagt Echos Geschichte aus, dass ein Leben in absoluter Völlerei nicht erstrebenswert sei. Die Intention, die ein Autor mit seinen Werken verfolgt, ist eng verbunden mit der Prämisse, die die Geschichte vermittelt, um „die Geschichte, die das geneigte Publikum jetzt lesen kann, für sich selbst sprechen [zu] lassen“. Zusätzlich fügen einige Schriftsteller ihren Werken ein Nachwort an, in dem sie sich expliziter an die Leserschaft wenden. So auch Moers. Es ist von Hochachtung die Rede, die der Autor dem Literaten des Prätextes gegenüber empfindet. In seinen Werken fließe „das pure Orm“:
“Orm, das ist die Kraft, die einen die ganze Nacht wie im Fieber schreiben und einen tagelang an einem einzigen Satz feilen lässt. Orm, das sind die unsichtbaren Dämonen, die um den Dichtenden tanzen und ihn auf seine Arbeit bannen. Orm, das ist der Rausch und das Brennen.”
Der fiktive Lindwurm (den Moers als “wahren” Schriftsteller des Romans bezeichnet) gibt an, er wolle dem Prätext zu „frischer Popularität“ verhelfen und dem „modernen Leserpublikum“ nahelegen. Die Intention, die er als realer Autor verfolgt, geht mit der Selbstinszenierung als Übersetzer einher. Sie spricht mehrere Ebenen an, was durch zwei unabhängige Sprecher deutlich wird. Diese doppelte Identität verschafft ihm die Möglichkeit, die eigene Geschichte vielschichtig auszulegen. Moers hebt in dieser Rolle hervor, Gofid Letterkerl gebühre „die Unsterblichkeit“. Zudem schwingt mit, dass Keller ein Idol für Moers war, denn „[v]on Letterkerl lernen, heißt schreiben lernen“.
Intertextualität ist also nicht nur in literaturwissenschaftlicher Hinsicht von Bedeutung, die Arbeit mit Texten von Vorbildern prägt auch die persönliche Entwicklung von modernen Schriftstellern, was sich wiederum auf ihre anderen Werke auswirkt. Das Motiv der Kulinarik findet sich in weiteren Zamonien-Romanen wieder. Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär beinhaltet eine Textpassage, in der Überfluss und Mangel ebenfalls miteinander konkurrieren. Die kulinarische Detailverliebtheit hat auch dort einen Platz gefunden. So lockt die Feinschmeckerinsel unseren Blaubär ebenso wie es Eißpin mit Kratze Echo tut.
Wie der Märchenerzähler zum Suppenkasper wird
Märchen waren lange Zeit ein Bestandteil der Erziehungsmedien. Nach wie vor haben Medien einen immensen Einfluss auf die Denkweise von Menschen. Durch das Lesen einer Geschichte, wird dem Gehirn simuliert, dass die Handlung tatsächlich miterlebt wird. Dementsprechend erlebt man die Offenbarungen und Prämissen hautnah mit. Literatur beeinflusst die Leserschaft nicht allein in Hinsicht auf das Rückbesinnen älterer Schriften, sondern prägt auch in ihrer neuen Form unser Verständnis von der Welt. Popkulturell bedeutet das Adaptieren von Sagen, Mythen und Märchen also nicht nur, dass ein Urstoff unsterblich wird, sondern dass er sich auch weiterentwickelt, so wie sich die Mentalität der Gesellschaft weiterentwickelt. Es herrscht eine Art Wechselwirkung, bei der sich beide Parteien gegenseitig prägen.
Tolkien beschrieb den Vorgang dieser gesellschaftlichen Prägung mit der Metapher eines Suppentopfes:
“Wenn wir nach dem Ursprung der Feenmärchen forschen, können wir feststellen, dass der Suppentopf, der Kessel der Geschichte fortwährend über dem Feuer hängt und brodelt und dabei stets neue Zutaten hinzukommen – manchmal gute, manchmal weniger wohlschmeckende.”
Neue Werke kommen wie neue Zutaten hinzu, bringen eigene Werte wie geschmackliche Noten ein und verändern das Produkt selbst. Heute werden klassische Märchen immer noch verkauft, jedoch ist der Buchhandel breiter gefächert und die Literatur wächst mit dem Zeitgeist, was die Gesamtmischung der Medien verändert. Themen wie Feminismus und Diversität werden öffentlich diskutiert, Autoren verpacken ihre Standpunkte in Geschichten, die entweder wohlwollend oder negativ von der Leserschaft und Kritik aufgenommen werden. Die Leserschaft ist offen für Trends, welche neue Zutaten für den Suppentopf aus Werten beeinflussen. Alte Geschichten, die schon zuvor begeisterten, werden literarisch weiterentwickelt oder satirisch interpretiert und erlangen neue Aufmerksamkeit, die den frischen Nährboden für weitere Diskussionen bilden.
Walter Moers‘ Der Schrecksenmeister und weitere seiner fantastischen Werke reihen sich dort ein. Zwischen Völlerei und Verzicht – wohl kaum ein Märchenroman verköstigt sich dem Thema Kulinarik wie dieser. Neben bekannteren Werken des Bestsellerautors geht dieser Einzelband fast unter, dabei ist er definitiv einen Blick wert. Immerhin ist Konsum- und Kapitalismuskritik ein Thema, das uns zwischen Wintermarktbuden, Wunschlisten und Geschenkerausch gerne wieder ein bisschen näherrücken darf. Und wenn diese Kritik ohne erhobenen Zeigefinger und stattdessen in Form einer urkomischen Realitätsklatsche mit Märchencharme kommt – umso besser!
Quellen:
Huovi, Hannele: Wladimirs Buch, München 2004, S. 287.
Keller, Gottfried: Spiegel, das Kätzchen, in: von Sosnosky, Theodor (Hg.): Deutscher Märchenschatz. Märchen der Dichter II, Bd. 4, Essen: Mundus 1999, S. 575–603.
Moers, Walter: Der Schrecksenmeister. Ein kulinarisches Märchen von Gofid Letterkerl Neu erzählt von Hildegunst von Mythenmetz Aus dem Zaonischen übersetzt und illustriert von Walter Moers, München: Piper 2007.
Moers, Walter: Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär. Die halben Lebenser innerungen eines Seebären mit zahlreichen Illustrationen und unter Benutzung des „Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachti galler, Frankfurt am Main: Eichborn 1999, S. 79–94.
Moers, Walter: Moers, Walter: Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen, illustriert und mit einer halben Biographie des Dichters versehen von Walter Moers. Mit Erklärungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller, Frankfurt am Main: eichborn 2000, S. 42f.
Enste, Dominik H. / Kary, Johanna: Die sieben Todsünden. Verhaltens ökonomische Interpretationen und Handlungsempfehlungen, Nr. 141, Köln: IW-Analysen 2021, S. 6f.
Michel, Sascha: Die Unruhe der Bücher. Vom Lesen und was es mit uns macht, Ditzingen: Reclam 2020, S. 17.
Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität, In: Pfister, Manfred; Broich, Ulrich (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Max Niemeyer 1985, S. 1. Tobias, Ronald B.: 20 Masterplots. Die Basis des Story-Building in Ro man und Film, Berlin: Autorenhaus 2016, S. 81.
