Der Urknall in Form einer Ente

Text: von Vanessa Ströter // Illustration: Luca Butt

Raum und Zeit saßen sich gegenüber und hielten einander bei den Händen. Es war ruhig um die beiden herum.Denn sie warteten auf ein kleines Mädchen, das aus dem Nichts zwischen ihren verschränkten Fingern ein Etwas machen würde.

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Jedes Mal, wenn die Enkelin ihre Oma besuchte, brachte sie ein Buch mit. Das war fast schon Tradition. Denn das Mädchen, das noch nicht einmal alle Schulzähne besaß, hatte eine Büchersammlung, die manchen Literaturstudenten vor Neid erblassen lassen könnte.

Obwohl die Kleine erst in der zweiten Klasse war, gehörten die Unterwassergeschichten, Märchen und Pferdebücher bereits fest zu ihrem Leben.

An diesem Sonntag zog sie ein großes Pappbuch aus dem Rucksack, auf dem in

Großbuchstaben das Wort „Ente“ stand. Ein hübsches Wachsmalstiftküken auf aquarellblauem Hintergrund war darauf zu sehen. Doch leider stellte sich heraus, dass das Buch einzig und allein aus Bildern bestand. Es waren hübsche Bilder, keine Frage, aber es fehlte der Zauber einer geschriebenen Geschichte, fand das Mädchen. Also fasste es einen Entschluss.

Innerhalb kürzester Zeit hatte sie alles beisammen, was sie brauchte: Druckerpapier, Filzstifte und einen Kopf voller Ideen. Worte flossen aus ihren Gedanken durch die Hand und aufs Papier. Das Mädchen war ganz versunken, bemerkte nicht, wie ihre Hand spiegelverkehrte „E“s und zu kleine „h“s schrieb. Alles was sie sah, war dieser Schleier aus bewegten Bildern vor ihrem inneren Auge. Sie schrieb und schrieb und schrieb und schrieb. Der Filzstift in der kleinen Hand war zu einem Kalligraphiefüller geworden…

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Ein Geräusch hallte durch das Nichts – ein knirschendes „krrrck“ – das Erste, was in diesem Vakuum aus Schwarz und Blau und Violett zu hören war. Sehen konnte man nichts, weder

Himmel noch Erde, weder Sonne noch Mond, statt Leben nur Leere. Aber dann – urplötzlich – war doch etwas da. Ein schneeweißes Ei, die Schale dünn wie Seidenpapier und quer darüber: ein Riss. Für einen kurzen Moment kehrte die unbewegliche Stille zurück. Dann begann der Riss zu wachsen, verbreitete erneut knackende Laute, die ohrenbetäubend wiederhallten. Parallel dazu schlängelten sich dunkle Schnörkel um das Ei und flossen zu einem fingerbreiten Rinnsal. Sowie die Schale entzwei sprang und ein Vogel in

Miniaturformat herauspurzelte, war eine Pfütze aus Tinte entstanden. Das Wesen hob den Kopf und öffnete die Augen. Es war gerade Zeuge der Geburt einer neuen Welt geworden und hatte zugleich selbst seine ersten Atemzüge getan.

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Sie war fertig. Stolz betrachtete das Mädchen die Blätter vor sich. Ganze drei Seiten hatte sie geschafft – eine Menge für eine Zweitklässlerin. Liebevoll streichelte sie das Papier. In ihrer Vorstellung existierte nun ein frisch geschlüpftes Entenküken namens Daggi. Es war noch ganz schwach, aber paddelte tapfer vor sich hin. Was sich gerade in ihrem Kopf abgespielt hatte, verstand sie nicht. Metaebenen waren ihr noch unbekannt. Aber sie fühlte die Bedeutung durch die drei Blätter vor sich.

Das Mädchen lief nach unten, um die Blätter der Großmutter zu zeigen. Doch als die erwachsene Frau mit strengem Dutt das Geschriebene überflog, las die Kleine Kritik in ihrem

Blick. Oma setzte sich, zog sie auf ihren Schoß und sagte: „Das ist ja toll. Aber da sind noch ein paar Fehler drin.“

Und so erfuhr die kleine Schöpferin an diesem Sonntag zwei Dinge: zum einen lernte sie, eine Geschichte niederzuschreiben. Zum anderen wurde sie mit Kritik an dieser Geschichte konfrontiert. Kein schönes Gefühl. Daggi, das Küken wirkte nicht mehr erstaunlich und besonders. Es sah ganz primitiv aus, wie es da vor sich hindümpelte in einer Minipfütze aus Tinte. Die Tiefe dieser Pfütze erahnte sie nicht. Das, was ihr zuvor wie ein Wunder erschienen war, kam ihr nun ganz unbedeutend vor.

Sie legte die Zettel zwischen die Pappseiten des Buches und klappte es zu. Kurzerhand war es im Rucksack verschwunden. „Aus den Augen, aus dem Sinn“, hatte Mama immer gesagt. Doch irgendwie wollte das nicht so recht funktionieren. So wie das Mädchen zu einer jungen Frau heranwuchs, reifte auch das Etwas hinter ihrer Stirn. Neue Ideen wurden zu Sternen, die sich in das Nichts piksten. Die Pfütze war mittlerweile zu einem Strom geworden und schlängelte sich durch die Sternenschnuppen dahin. Lyrische Strahlen brachen sich in der funkelnden Tintenstraße. Sie flirrten umher wie Schmetterlinge. Und doch lebten sie nicht.

Daggi blieb einsam. Bis zum heutigen Tag.

***

Ich mistete meine Bücherregale aus, die mittlerweile nicht nur Literaturstudent:innen, sondern auch Dozierende vor Neid erblassen lassen könnten. Hinten in der Ecke lehnte das längst vergessene Bilderbuch. Als ich es in die Hand nahm, rutschte ein Blatt Papier heraus. Darauf: Wörter in wackeliger Zweitklässlerschrift. Plötzlich war es wieder da: das erste Mal schreiben – meine kreative Entjungferung sozusagen. Nostalgie durchströmte mich wie warme Milch mit Honig. Ich sah es ganz deutlich vor mir: das hässliche Entlein im

Tintenmeer, das den albernsten Namen hatte, den man sich vorstellen konnte. Es sah immer noch zerrupft und schwach aus. Aber die Augen waren klar wie Wasser.

Überraschenderweise empfand ich nicht die Scham von damals. Stattdessen erfüllte mich Stolz. Denn jetzt weiß ich, was sich da in mir befindet: ein eigenes Universum geboren aus dem vorsichtigen Händchenhalten von Raum und Zeit, in dem tausend Ideen, Gedanken und Träume umklammert werden. All die Jahre war diese Welt der Spatz in meiner Hand, dabei hätte sie zur Taube auf dem Dach, zur Taube in der realen Welt werden können.

Ja, ich bin stolz auf dieses hässliche Entlein, dass ganz aus krakeligen Buchstaben zusammengebastelt wurde. Denn so klein dieses Wachsmalstiftentchen auch sein mag, es war der Funke – der erste Impuls – der eine neue Welt erschaffen hat. Und so sitze ich hier und träume von fantastischen Nixen, hübschen Feen und magischen Tieren. Ich möchte wieder schreiben. Es wird höchste Zeit, dass Daggi Gesellschaft bekommt.

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