Bibo ergo sum
Einladung, einen anderen Weg zu gehen.
Ich bin Alkoholiker. Auch wenn die Weichen bereits vor meiner Immatrikulation in diese Richtung verstellt waren, so habe ich sie erst während meines Studiums tatsächlich erreicht und schließlich mit donnernden Rädern hinter mir gelassen.
Vor inzwischen gut 15 Jahren hätte ich die folgenden Worte dringend benötigt. Ob ich sie mir zu Herzen genommen hätte, steht auf einem ganz anderen Blatt. Wie sich unser Leben entwickelt und mit ihm all die Unwägbarkeiten, unsere emotionalen Verletzungen und die Mittel und Wege, wie wir damit umgehen, wissen wir nicht. Einige dieser Wege versprechen vermeintliche schnelle Linderung und führen doch fast unvermeidlich in einen Abgrund.
Auch wenn ich mit Anfang 20 wenig auf die Lebensweisheiten anderer gegeben habe, so wäre vielleicht dieses eine deutliche Wort und diese eine sprichwörtliche Kopfwaschung mehr, die klare und unmissverständliche Warnung an der richtigen Stelle exakt das gewesen, was mich hätte befähigen können, den Weg Richtung Abgrund nicht zu gehen.
Aber ist es nicht das Vorrecht der Intellektuellen und Studierenden, mit einem Glas Single Malt in der Hand über die grundlegenden Fragen ihres Fachs zu parlieren, sich Wortgefechte zu liefern und den Verstand zu schärfen? Löst dieses Glas nicht auf hervorragende und so überaus preiswerte Weise die Zunge und macht dabei auch noch sozial kompatibel? Ist es nicht auch das Vorrecht der Jugend, wirklich und wahrhaftig zu feiern, ohne an das Morgen zu denken? Den Druck und das Gewicht des Lebens vergessen zu machen, Rausch und Leichtigkeit zu erfahren und sein Bewusstsein über jenes der Alten zu erheben? Denn das Alter kommt irgendwann. Später.
Heute lebe ich abstinent. Ich bin „trocken“ und dennoch ist jeder Tag ein Kampf, mal mehr, mal weniger heftig, aber auszutragen ist er immer. Um gesund zu bleiben, verzichte ich auf Alkohol, verzichte ich auf jede mir bekannte Art des Rausches und des vermeintlich kontrollierten Kontrollverlusts.
In meinem Hinterkopf damals reifte zwar die Erkenntnis zart und leise, dass durchaus etwas mit meinem Konsum nicht stimmt. Dennoch schlug ich die ersten Alarmzeichen oder die vorsichtigen und doch als inquisitorisch wahrgenommenen Fragen von Freunden und Familie in den Wind und ignorierte die Angst davor. Das Leben ist verdammt kurz und die Jugend noch kürzer und mit Alkohol erscheint es, wenn nicht länger, so doch wirklich genossen, wirklich ausgekostet. Das Eingeständnis, ein Problem zu haben oder zu entwickeln, wartete nur darauf, endlich verbalisiert zu werden und doch konnte ich es nicht. Es fiel mir unsagbar schwer und es war mir augenscheinlich lange Zeit unmöglich, mich denjenigen anzuvertrauen, die mich lieben. Erst als es zu spät war und ich keine andere, für mich valide Wahl mehr hatte, konnte ich es. Hätte ich rechtzeitig meinen Weg zu einer Suchtberatung gefunden, zu jemandem, der verstände, wie es mir ging und der mir hätte sagen können, was zu tun oder worauf zu achten war, hätte ich einen Großteil meiner Chancen vielleicht nicht verstreichen lassen, hätte ich vielleicht keine Freunde verloren oder Beziehungen zerstört, hätte ich vielleicht mehr Träume nicht nur geträumt, sondern gelebt, hätte ich vielleicht, hätte ich vielleicht.
Heute lebe ich nicht nur noch, weil ich es schlussendlich tat und mein Geheimnis, welches längst keines mehr war, offenbarte, sondern auch, weil ich meine Sucht behandeln lasse. Der Weg zur nächsten Beratungsstelle, zur nächsten Hilfe ist nicht weit. Es gibt sie überall und das sagt sowohl über die Krankheit als auch über unsere Gesellschaft eine Menge aus. Wenn es unmöglich erscheint, sich vor Familie, Freund*innen oder Kommiliton*innen zu bekennen oder es vielleicht nicht sicher aber möglich erscheint, dass der Weg in die Sucht der eigene sein wird, wartet dort jemand, der Rat weiß. Jemand, der zuhört, ohne zu verurteilen und hilft, mit Scham und Reue auf konstruktive Weise umzugehen.
Wer jenes „hätte“ niemals sagen möchte oder sich nicht sicher ist, der geht vielleicht einen anderen Weg als ich. Ich lade Dich ein, einen anderen Weg zumindest zu versuchen. Denn vor dieser Erkenntnis und vor allem dem schmerzvollen, schlussendlich selbstgewählten Pfad dorthin schützt kein Intellekt, kein Master und keine Promotion, aber möglicherweise diejenigen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Süchtigen zu helfen und denen, die dabei sind, es zu werden.
Der Autor dieser Zeilen ist der Suchtberatung Volkssolidarität Rostock, Goethestr. 16 bekannt und ist den dortigen Mitarbeitern in tiefer Dankbarkeit verbunden.