Wir, die Dummen

Von Marvin Wils // Illustration von Emma Moehrke

Fühlt sich toll an, was? Der Morgen bricht an, um punkt acht Uhr machst du dir deine tägliche Tasse Kaffee. Natürlich in einer Siebträgermaschine. Menschen mit Vollautomaten haben keine Ahnung von Aroma, und das Wort „Senseo“ hast du gänzlich aus deinem Wortschatz gebannt. Du gibst deinen beiden Kindern einen Kuss auf die Stirn, bevor sie selbstständig zum Schulbus marschieren. Gut haben du und deine Frau sie erzogen, mit zehn Jahren schon völlig selbstständig. Spielen beide ein Instrument, Klavier und Gitarre, und beide im Sportverein. Gute Kinder, schlaue Kinder. 

Dreißig Minuten später brichst du selbst auf. Es ist noch kühl um diese Jahreszeit, also stellst du die Sitzheizung deines Audis ein, bevor du eine Erkältung riskierst. Das Auto begrüßt dich mit „Guten Tag“ und du fährst los. Hundert Sensoren und Kameras bieten bestmöglichen Fahrkomfort, ohne Gefahr, ohne Risiko. Aber so ist dein Leben, was? Wann war bei dir jemals etwas in Gefahr? Deine Eltern haben dich so erzogen, wie du deine Kinder erziehst. Viele Freiheiten, gepaart mit nötiger Strenge. In ein paar Wochen geht es nach Frankreich, Westküste. Du brauchst eine Auszeit vom ganzen Stress und deine Kinder wollen die Welt sehen. Dieses Leben ist nur so kurz. Man soll es nutzen!

Du bemerkst gar nicht, wie sich unsere Wege kreuzen. Du steigst aus deinem Wagen, richtest deine Krawatte, nimmst deinen Aktenkoffer und gehst ins Gebäude. Dann siehst du mich. Obwohl, nein, nicht wirklich. Deine Sinne registrieren meine Anwesenheit, aber ich bin nicht wichtig genug, um mehr Aufmerksamkeit von dir zu erhalten. Ich, die Reinigungskraft mit dem Wischmopp in der Hand. In deiner Welt existiere ich gar nicht. Nur, wenn dir etwas auf den Boden fällt, oder wenn es regnet und du mit nass-dreckigen Schuhen die Halle betrittst, dann denkst du: „Das wird die Reinigung machen.“

Und obwohl du gar nicht über mich nachdenkst, obwohl ich in deiner Welt gar nicht existiere, reagierst du trotzdem auf mich. Gar nicht bewusst, nein, aber ich, die Reinigungskraft, kann es sehen. Ein scharfer Blick blitzt mir entgegen und ich werde rot. Ich stelle mir vor, was du wohl von mir hältst: „Was für ein ungepflegter Trottel, der hier den Boden wischt! Der mit seinen filzigen Haaren hat doch seit Tagen nicht geduscht, der stinkt bis hierher!“

Du denkst das nicht, denn du bist ein gut erzogener, ein toleranter Mann! Und nie würdest du etwas Schlechtes über andere Menschen sagen. Doch dein Blick verrät mehr über dein Unterbewusstsein, als du denkst. Du bist angeekelt. Mit mir möchtest du nichts zu tun haben. Und so gehst du weiter, drückst auf den Fahrstuhlknopf und verschwindest. 

Aus meiner Welt aber verschwindest du nicht. Ich denke jeden Tag an dich. Nicht an dich als Person, aber an deinesgleichen. Die guten. Die, die attraktiv und schlau sind. Die sich im Leben behauptet haben, die wussten, wie sie es anstellen müssen. 

Ich bin nicht so schlau. Ich wäre es vielleicht, wenn ich die Schule abgeschlossen hätte, aber ich mochte diesen Ort nicht. Da war ich der, neben dem niemand sitzen wollte, weil er so gestunken hat. Aber woher sollte ich auch lernen, wie man sich rein macht, wenn es mir keiner beibringt? Meine Mutter kann gar nichts dafür, wir waren sechs Geschwister und jedes hat seine eigenen Sorgen. Wie soll sie daran denken, dass ich unter die Dusche muss? Meinen Papa habe ich übrigens auch nicht kennengelernt. Es kamen viele Männer in unsere Wohnung, aber Papa war nie dabei.

Wenn ich nicht so gestunken hätte, hätte ich bestimmt nicht so früh abgebrochen! Nur meine Noten wären vielleicht ein Problem gewesen, weil ich so dumm bin. In der ersten Klasse, wo man lesen lernt, da bin ich nicht hinterhergekommen. Alle anderen konnten es schon, sie haben ihren Eltern sogar schon vorgelesen, bevor sie in die Schule kamen. Immer, wenn wir in der Klasse gemeinsam gelesen haben, haben sie gelacht, wenn ich drankam. Und die Lehrerin hat schnell jemand anderen drangenommen, sie musste ihren Unterricht voranbringen, mit mir hätte das ewig gedauert. In Sport war ich auch nicht gut. Während all die anderen die Vorwärtsrolle schon konnten, habe ich mich nicht getraut. Die anderen haben das immer in ihrem Garten geübt und sind sogar schon mehrmals auf Bäume geklettert! Bei uns gab es nicht mal Bäume. Nur Asphalt. 

Irgendwann wollte ich dann einfach nicht mehr in die Schule. Meine Geschwister haben auch immer geschwänzt, also dachte ich, es wäre kein Problem. Aber da fing es leider erst an. Sie haben alle geraucht und wollten, dass ich auch anfange. Ich mochte das nicht, die ganze Wohnung hat immer danach gestunken, aber meine Geschwister waren meine einzigen Freunde. Ich konnte es mir nicht leisten, von ihnen ausgestoßen zu werden. Irgendwann waren es dann nicht mehr nur Zigaretten. Wir fingen an zu trinken. Eines Tages, da hatte ich ein bisschen zu viel. Da sah ich deinesgleichen. Einen Anzugsträger mit Aktenkoffer, ganz wie du, der die Straße entlanglief. Plötzlich begann der Alkohol mit mir zu sprechen: „Schau ihn dir an, mit diesem feinen Hemd und dieser schicken Aktentasche! Bestimmt ist da Geld drin.“

„Aber wir können ihn doch nicht beklauen“, habe ich zum Alkohol gesagt, doch der wollte davon nichts wissen.

„Was glaubst du, woher er sein Geld hat, hm? Der hat das auch nur geklaut. Warum darf er sich so teure Klamotten kaufen und wir nicht?“

„Weil er schlau ist! Er hat es verdient!“

„Er hatte nur Glück!“

Dann habe ich diesem Mann seine Aktentasche klauen wollen. Aber er hat sich gewehrt. Ich musste ihn schlagen, bis er auf dem Boden lag. Plötzlich habe ich mich so mächtig gefühlt. Ich musste gar nicht so schlau sein wie die anderen, ich konnte mir einfach nehmen, was ich wollte! Schicke Anzüge? Teure Uhren? Ein Haus mit einer hübschen Frau und zwei Kindern? Ich konnte all das haben! Und dann würden mich meine Mitschüler nicht mehr auslachen, nein, sie würden mich respektieren!

Ich begann zu stehlen. In der Nacht bin ich in Einfamilienhäuser eingebrochen. Dort fühlten sich die Menschen am sichersten und passten nicht auf – nur die Grundstücke mit Hunden habe ich vermieden.  Doch es kam, wie es kommen musste: Irgendwann hat mich die Polizei erwischt. Zum Glück kam ich nur in die Jugendstrafanstalt.

Du denkst jetzt bestimmt schlecht über mich, aber ich habe mich gebessert! Im Gefängnis wurde mir klar, dass ich ein guter Mensch war. Nur der Alkohol machte mich böse! Seitdem ich aus dem Gefängnis bin, habe ich immer einen Job gehabt! Heute habe ich sogar zwei Kinder, so wie du! Natürlich kann ich ihnen nicht so viel beibringen oder mit ihnen in den Urlaub fahren … als Reinigungskraft verdient man nicht so viel, aber es reicht, ich bin zufrieden! Und ich sporne meine Kinder an, gut in der Schule zu sein, auch wenn ich keine große Hilfe bei den Hausaufgaben bin.

Natürlich, wenn ich deinesgleichen sehe, bin ich immer noch ein bisschen neidisch. Aber so ist das eben, die Schlauen bekommen mehr. Ihr interessiert euch nicht für uns, ihr habt viel zu viel zu tun. Ihr müsst die vielen Dinge tun, für die wir zu dumm sind. 

Manchmal bin ich aber schon ein bisschen traurig – traurig über die Dinge, die ich bei euren Gesprächen auf dem Flur mitbekomme. Ihr sagt, wir seien faul und haben uns unsere Situation selbst eingebrockt. Ihr macht euch darüber lustig, dass wir uns billige Fake-Kleidung und -uhren kaufen. Und ihr empört euch darüber, dass wir, die Dummen, immer die schlechten Parteien wählen. 

Ihr haltet uns für schlechte Menschen, aber das sind wir gar nicht! Wir konnten doch gar nichts dafür! Wir kaufen all diese Kleidung, damit wir so sein können wie ihr! Und woher sollen wir etwas von Politik verstehen, wenn wir nie etwas anderes als unseren Block gesehen haben? Jeden Tag schaue ich in den Sternenhimmel und frage ich mich, wie ich es besser machen kann, aber mir fällt nichts ein, weil ich so dumm bin. Trotzdem träume ich. Träume so wie ihr. 

Ich wünschte mir, ihr würdet euch trauen, uns anzusehen, um zu bemerken, dass wir mehr sind als nur der Schmutz auf unserer Haut. Wir wollen euch gar nichts Böses, sondern sehen zu euch auf, wir wollen so sein wie ihr! Wenn ihr das verstehen würdet, dann würdet ihr uns vielleicht auch mal zulächeln.

Aber wahrscheinlich verstehe ich davon nichts. 

 

Über den Autor:

Marvin Wils studiert Deutsch und Sport im Lehramt und schreibt schon von klein auf Geschichten. Wenn Serien einen Cliffhanger hatten, hat er die Handlung für sich weitergeschrieben. Das Schreiben setzte er mit weiteren eigenen Geschichten fort bis im Herbst 2022 sein erster Kurzgeschichtenband „Die Geister des Waldes“ erschien. Marvin hat eine Liebe für das Unerklärliche und Mystische, sodass er auch bei Geschichten mit realistischen Handlungen einen kleinen Fantasy-Anteil einbaut. Im Frühjahr 2024 erscheint sein erster Roman, in welchem die Romanfigur für die Lesenden zum Leben erwacht. Parallel arbeitet er an einem Kinderbuch über einen Außerirdischen und einen mürrischen Fuchs. Auf Instagram ist Marvin unter @marvin.wils, bei TikTok als @marvin_wils zu finden, wo er Videos mit kleinen Geschichten postet.

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