Jetzt hab’ dich mal nicht so

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von Hanna Birkenhagen.

Sexualisierte Gewalt ist ein unschönes und deshalb oft tabuisiertes Thema, was die Aufklärung darüber umso wichtiger macht, um Betroffenen den richtigen Umgang und die Verarbeitung zu erleichtern.

Ein Mann setzt sich jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit direkt gegenüber von der Frau hin, die eine Station vor ihm einsteigt, und starrt sie die gesamte 30-minütige Fahrt eindringlich an, bis die Frau eines Tages so angsterfüllt ist, dass sie lieber einen früheren Bus nimmt. „Jetzt hab’ dich mal nicht so. Nimm es doch als Kompliment, wenn er dich hin und wieder ansieht.“

Sätze wie „Schätzchen, beweg mal deinen hübschen Hintern hier rüber!” muss sich eine Mitarbeiterin täglich von ihrem Vorgesetzten gefallen lassen und fühlt sich dabei so unwohl, dass sie mit dem Gedanken spielt, zu kündigen. „Jetzt hab’ dich mal nicht so. Du interpretierst das bestimmt nur über.”

Der Sportlehrer berührt eine Achtklässlerin bei Hilfestellungen im Turnunterricht wiederholt an intimen Stellen, bis sie sich so belästigt fühlt, dass sie so tut als wäre sie krank, um nicht zum Sportunterricht gehen zu müssen. „Jetzt hab’ dich mal nicht so. Das ist sein Job, oder möchtest du lieber hinfallen?”

Jede 7. Frau in Deutschland erlebt im Laufe ihres Lebens strafrechtlich relevante sexualisierte Gewalt. 60% aller Frauen in Deutschland haben sexuelle Belästigung erlebt. 11.000 Fälle sexuellen Missbrauchs gegenüber Kindern werden der Polizei jährlich bekannt gegeben. Die Dunkelziffer sexualisierter Gewalt ist deutlich höher.

In den meisten Fällen üben Männer sexualisierte Gewalt auf Frauen aus. 85-90% aller Täter sind männlich und die meisten Opfer sind Mädchen oder Frauen. Doch es gibt auch weibliche Täterinnen und männliche Opfer. Jeder 10. bis 12. Mann ist als Minderjähriger von sexualisierter Gewalt betroffen gewesen. Doch bei männlichen Opfern unterscheidet sich die Zahl der angezeigten Straftaten noch stärker von der tatsächlichen Dunkelziffer als bei weiblichen. Grund hierfür sind traditionelle Konstrukte von Männlichkeit, die Wahrnehmungsblockaden schaffen, wodurch Schameffekte und Identitätskrisen vermieden werden.

Nach der allgemeingültigen Definition ist das Motiv für sexualisierte Gewalt nicht die Sexualität, sondern Macht. Sexualität wird funktionalisiert, um zu erniedrigen und zu unterdrücken, mit dem Ziel, sich selbst als mächtig zu erleben. Zu sexualisierter Gewalt zählt jedes Verhalten, welches die sexuelle Selbstbestimmung oder Intimsphäre verletzt.

Demnach kann das Ausmaß sexualisierter Gewalt endgültig nur durch das Empfinden des Betroffenen selbst definiert werden. Doch durch Sätze wie „Jetzt hab’ dich mal nicht so!” werden Handlungen, die von Betroffenen als Grenzüberschreitung empfunden werden, von Außenstehenden relativiert und heruntergespielt. Wir verlernen, auf unser eigenes Gefühl zu hören, was dazu führt, dass viele sexualisierte Gewaltverbrechen nicht angezeigt werden. Durch Machtungleichgewichte, geschlechtsspezifische Sozialisation, Verharmlosung, Tabuisierung und mangelnde Aufklärung und Prävention wird sexualisierte Gewalt im Alltag weiter begünstigt.

Und genau deshalb ist es so wichtig, dass durch Veranstaltungen wie den Vortrag über “Sexualisierte Gewalt im Alltag” im Café Median, der im Februar stattfand, Aufklärungsarbeit geleistet wird. Der Vortrag ist Teil einer Veranstaltungsreihe zu den Themen Sexismus und sexualisierte Gewalt mit dem Titel “Jetzt hab’ dich mal nicht so”, welche durch die antifaschistische Jugendgruppe LI*MO ausgerichtet wird. Geplant war als letzte Veranstaltung dieser Reihe ein Workshop zum Thema “Geschlechterrollen im Deutschrap” im April. Dieser kann aufgrund der derzeitigen Situation leider nicht stattfinden. In unserem Veranstaltungskalender halten wir euch über mögliche neue Termine auf dem Laufenden.  


Lesetipp: „Untenrum frei“ von Margarete Stokowski (Rowolt) ist ein politisch-feministischer Essay über Macht und Freiheit und diskutiert den aktuellen Schönheitsbegriff und den Stand der sexuellen Revolution der Nachwendegeneration.
Im ihrer wöchentlichen Kolumne im SPIEGEL schreibt die Autorin derzeit auch über ihre Beobachtungen der Gesellschaft in der Corona-Pandemie.
Stokowski, Margarete: Gesellschaft in der Pandemie. Befehl von oben, Befehl von unten. (24.3.2020)
https://www.spiegel.de/kultur/corona-krise-befehl-von-oben-befehl-von-unten-a-291e1a0f-7465-440d-843e-8cfdb1c2a41f

Illustrationen: Rosa Staiger

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