9-Euro-Ticket – Erste Eindrücke

9 Euro-Ticket

Von Julian Parschau // Grafik von Josephin Bauer

Das 9-Euro-Ticket ist da. Mit gemischten Gefühlen begebe ich mich in Richtung Rostocker Hauptbahnhof. Finanziell unbestreitbar vorteilhaft für den Konsumenten, birgt der Spaß natürlich auch Gefahren. Wir sprechen von Überfüllung, Verspätung, gereiztem Publikum und die allgemein unangenehme Spezies, die der geneigte Hobbykulturwissenschaftler als „der Deutsche auf Reisen“ kennt.

Angekommen am Hauptbahnhof befürchte ich beim ersten Hinsehen, dass mir die Gefahr der Überfüllung nicht verborgen bleiben wird. Ich habe Zeit und Durst. Als ich eine Flasche Wasser für den erstaunlich hohen Preis von vier Euro erstehen möchte, entgegnet der Kassierer knapp: „Barzahlung“. Eine rasche Finanzprüfung stellt klar: Keine Barzahlung. Mein Blick verrät mich. Wortlos stellt der Kassierer, der nunmehr fast staatsmännisch auftritt, die Flasche Wasser zurück. Für ihn scheint das, nennen wir es mal Gespräch, beendet. Mein letztes Aufbegehren wird im Keim erstickt. Ich gehe mit nach wie vor mehr Durst als Bargeld aus dem Laden. In drei weiteren Läden ereilt mich, wenngleich dieses mal freundlicher, das gleiche Schicksal.

Kartenzahlung ist heut nicht. Unhandlicher Start in den Tag. Angekommen am Gleis stelle ich fest, dass neben mir auch der Rest Mecklenburg-Vorpommerns gern verreisen möchte. Der Zug nähert sich, Anspannung macht sich breit. Ich fühle mich gut positioniert, andere sind offenbar noch unzufrieden und versuchen, mir meine Startposition streitig zu machen, indem sie mir ihre Koffer in alle möglichen Beinregionen hacken, mein Wille bleibt jedoch ungebrochen. Anders als meine Beine. Der Zug verlangsamt sich. Das Lustigste an einem anfahrenden Zug ist die Reaktion derer, die versuchen, ihn zu besteigen. Irgendwann realisiert ein Großteil, einer nach dem anderen, dass die Zugtür nicht unmittelbar vor einem selbst zum Stehen kommt. Kollektiv wandert das Zugvolk folgerichtig nach links, um diesen Fehler zu korrigieren. Jeder Beteiligte ist unfreiwillig Teil des deutschen Reiseflashmobs. Beim Wandern nach links sind erste Stürze zu verzeichnen. Die kleinen Rollkoffer dienen nicht nur als Gepäcktransfermöglichkeit, sondern auch als gemeine Tretmine für potenzielle Feinde im Kampf um einen Sitzplatz. Einen solchen konnte ich bequem ergattern, ohne eine Straftat zu begehen.

Ebenfalls einen Sitzplatz ergattern konnte das Pärchen im Sitzbereich zu meiner Rechten. Beide, so scheint es mir, möchten den Zug in den kommenden zwei Wochen nicht verlassen. Anders ist die Inneneinrichtung ihres Platzes nicht zu erklären. Der kleine Rollkoffer, an dem noch Blutspuren der Sitzplatzschlachtopfer zu erkennen sind, fungiert als Tisch, auf dem zeitnah ein fürstliches Menü angerichtet werden soll. Während ich verängstigt abwäge, ob die beiden wohl erst hartgekochte Eier oder Frikadellen aus Krähenfleisch der Marke „Ja!“ im praktischen 1000 Gramm Behälter entfalten werden, überrascht mich die offenbar gänzlich schambefreite Mittdreißigerin: Es ist eine 5 Minuten Terrine, abgefüllt in einer Thermoskanne. Hab ich nicht kommen sehen.

Ich versuche, die Geschmacksrichtung zu erriechen. Irgendetwas zwischen Texas Barbeque und „ichhabeseitzweiwochenvergessenmeinnasseshandtuchausdersporttaschezuräumen“. Die Vorspeise ist durch, der Hauptgang wird angerichtet. Selbstzufriedenheit durchströmt mich, als ich sehe, wie hartgekochte Eier zum Vorschein kommen. Unzufriedenheit durchströmt mich, als das Aroma in meine Richtung eiert. Der Mann hält ihr das Ei hin, sie kloppt mit drei beherzten Schlägen drauf, das Abpellen erledigt er in Eigenregie, selbst ist der Mann. Wahre Liebe. Aber eben in akzentfreiem Deutsch. Der kleine Reisesalzstreuer rundet das raffiniert abgestimmte Gericht ab.

Da in einem Zugwagon, der, entgegen des eigenen Selbstverständnisses, gar kein Speisewagen ist, ein bisweilen eher sachliches Klima vermittelt wird, das zu Speis und Trank der beiden Schmalspurlombardis nun so gar nicht passt, hat die Frau offensichtlich vorgedacht: Ein digitaler Bilderrahmen findet Platz auf dem Designertisch. Um das Urlaubsfeeling zu verstärken, entledigt sich die Frau kurzerhand ihrer Schuhe. Schlagartig beginnt es wieder nach 5 Minuten Terrine zu riechen. Zwischen vier weiteren Thermoskannen, deren Inhalt ich mich weigere, mir vorzustellen, leuchtet eine Bilderstrecke auf. Ich bemühe mich nicht mal mehr, mich in die Reiseplanung der beiden Discountromantiker zu träumen. Zu sehr schmerzt die Vorstellung, dass bei allen sich ereigneten Programmpunkten keine der beiden Parteien aufmerkte: „Sind wir sicher dass wir das so machen sollten?“

Nein, solltet ihr nicht. Bitte nicht.

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