Von David Wolf // Illustration von Rosa Staiger
Es ist der 22. August 1992. Am Abend entsteht vor der Aufnahmestelle für Asylbewerber:innen eine Menschenmenge, die bis 20 Uhr ca. 2000 Menschen misst. Ein Teil der Menge beginnt damit, die Fenster des Sonnenblumenhauses mit Steinen zu zertrümmern. Der Rest der Menge schaut einfach nur zu oder befeuert die Angriffe durch Zurufe. Erst als die Polizist:innen vor Ort Wasserwerfer zur Unterstützung bekommen, kann die Lage zwischenzeitlich in den Griff gebracht werden. Am nächsten Tag findet sich erneut eine Menschenmenge vor dem Sonnenblumenhaus zusammen. Zusätzlich zu den Steinen werden jetzt die ersten Molotowcocktails auf das Gebäude geworfen. Die Landespolizei bekommt die Lage nicht mehr in den Griff, weshalb sich der Innenminister Lothar Kupfer dazu gezwungen fühlt, einen landesweiten Alarm auszulösen. Nur durch die Unterstützung der Hamburger Polizei und des Bundesgrenzschutzes können die Angriffe gestoppt werden. Als sich am 24. August erneut, dieses Mal vor allem Jugendliche, vor dem Sonnenblumenhaus versammeln, wird es evakuiert. Nur das vietnamesische Wohnheim, welches sich nebenan befindet, bleibt weiterhin bestehen. Am Abend setzen weitere Molotowcocktails das Sonnenblumenhaus in Brand. Die 120 Vietnames:innen, die sich im Gebäude befinden, müssen sich aufs Dach retten. Durch die Unterstützung der Feuerwehr und Polizei gibt es keine Toten. Weitere 27 Stunden wird Rostock von den Straßenkämpfen zwischen den Angreifern und der Polizei beherrscht. Erst unter Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas kann die Menge aufgelöst und die Lage unter Kontrolle gebracht werden. [1]
Selbst hätten sich diese Angreifer:innen wahrscheinlich nicht als extremistisch identifiziert. Genauso wenig wie sich Diktatoren wie Hitler, Mussolini oder Stalin als Extremisten bezeichnet hätten. Von außen gibt es wenig Diskussionen über die Bezeichnung dieser Personen. Doch welche neue Information wird dadurch erlangt, etwas extremistisch zu nennen? Auf die Frage, was Studierende der Uni-Rostock unter Extremismus verstehen, bekommt man unterschiedliche Antworten. Gemeinsam haben sie alle, dass es sich bei Extremist:innen um Menschen mit radikalen Wertvorstellungen handle, die stark von der großen Masse abweichen. Dabei bemerken einige, dass Extremismus einen sehr großen Bereich an Wertvorstellungen abdecke, die sich teilweise stark unterscheiden.
Um Extremismus zu definieren, wird ein Ausgangspunkt, wie z.B. die Gesellschaftliche „Mitte“ benötigt. Wenn Personen in ihren Normen und Werten extrem von diesem Ausgangspunkt abweichen, kann dies als Extremismus bezeichnet werden. In unserer Gesellschaft bedeutet dies das Ablehnen von den gängigen Ordnungen, Regeln und Normen des Verfassungsstaates. Unter dem Oberbegriff „politischer Extremismus“ kann dabei in rechter, linker und religiöser Extremismus unterteilt werden. Gemeinsamkeiten dieser Unterteilung sind die Ablehnung gesellschaftlicher Vielfalt, Toleranz und Offenheit, eine ausgeprägte Freund-Feind-Vorstellung, Fanatismus und häufig auch Verschwörungstheorien. Extremist:innen versuchen nicht selten, politische, ökonomische oder soziale Probleme auf eine einzige Ursache zurückzuführen. [2] [3]
Dieser Abgrenzungsbegriff bringt jedoch auch einige Probleme mit sich. Vor allem im Alltagsgebrauch werden unterschiedliche Formen des Extremismus miteinander gleichgesetzt und die politische „Mitte“ wird idealisiert. Mit der Bezeichnung als „extremistisch“ wird ein klares Feindbild geschaffen. Auf der einen Seite stehen Extremist:innen, welche nicht geduldet werden dürfen und auf der anderen Seite steht die schützenswerte freiheitlich-demokratische Grundordnung. Dass Diskussionen von Menschen mit verschiedenen Meinungen ein zentrales Mittel dafür sind, um Probleme in Demokratien zu lösen, wird dabei häufig vernachlässigt. Mit dem Ziel, politische Gegner zu diskreditieren und deren Positionen in ein schlechtes Licht zu rücken, werden diese als extremistisch abgetan. Simon Teune, Vorstandsvorsitzender des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung der TU Berlin schreibt dazu folgendes: „Die Rede von den „Extremist*innen“ suggeriert darüber hinaus, dass alle, die so bezeichnet werden, gleichermaßen eine Gefahr für Demokratie und Menschenrechte sind. Dieses Mantra, das im politischen Raum vor allem von Konservativen reflexhaft zu hören ist, demotiviert und entfremdet insbesondere diejenigen, die sich gegen Rassismus und völkische Ideologie engagieren“ [4]
Auch 30 Jahre nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen sitzt der Schock über die Gewalttaten noch tief. Die vage Definition und der inflationäre Gebrauch des Extremismus-Begriffs, mit dem z.B. Klimaschützer:innen oder Feminist:innen immer wieder stigmatisiert werden, führt dazu, dass er keinen wirklichen Erkenntnisgewinn mit sich bringt. Zudem rückt er stigmatisierte Personen nicht nur in ein falsches Licht, sondern verharmlost auch die Gewalttaten, die z.B. die Asylbewerber:innen aus dem Sonnenblumenhaus 1992 erleben mussten.
Quellen:
[1] NDR: Rostock-Lichtenhagen 1992: Chronologie der Krawalle
[3] Jaschke, Hans-Gerd, Politischer Extremismus, Wiesbaden 2006, S.16-17.
[4] PRIF Blog: Warum wir nicht vom „Extremismus“ reden sollten