Von David Wolf // Jonas Müller
„Erinnern heißt verändern“, „Lasst uns einander akzeptieren! Recht auf gleiche Rechte!“, „Bleiberecht für ehemalige Vertragsarbeiter:innen! Solidarität mit Pham Phi Son & seiner Familie“. Diese und noch einige weitere Banner schmücken am Sonntagvormittag, den 21.08, den Rostocker Marktplatz vor dem Rathaus. Bei 23 °C und Sonnenschein haben sich hier ca. 60 Demonstrant:innen versammelt, um dem Lichtenhagener-Pogrom zu gedenken. Rostock soll dabei nicht das einzige Ziel bleiben. In Zusammenarbeit haben Pro Bleiberecht MV, Gedenken an das Pogrom. Lichtenhagen 1992 und die Interventionistische Linke eine Kundgebungstour organisiert. Ausgehend vom Neuen Markt führt diese über das Innenministerium in Schwerin, bis hin zur Erstaufnahmeeinrichtung in Nostdorf-Horst.
Gegen 10 Uhr beginnen die ersten Redebeiträge. Dabei wird vor allem die Asylpolitik im Nachgang des Pogroms kritisiert. Das Resultat der Angriffe in Lichtenhagen sei keine Verbesserung der Situation, sondern führte zu einem Abkommen, welches vorsah, Sinti:zze und Rom:nja schnell nach Rumänien abzuschieben. Daraufhin folgten weitere Protestaktionen, die über die Grenzen Deutschlands hinausgingen.
Die französische Vereinigung F.F.D.J.F., auf Deutsch Söhne und Töchter der deportierten Juden aus Frankreich, reiste am 19. Oktober 1992 mit ca. 60 jugendlichen Aktivist:innen nach Rostock. Sie stellten sich gegen die Abschiebungen und brachten am Rathaus eine Mahntafel an, die an den Völkermord der Nationalsozialisten und das Pogrom in Lichtenhagen erinnern sollte. Als die Polizei eingriff, wehrten sich die französischen Protestierenden, woraufhin 46 von ihnen vorübergehend verhaftet wurden. Die Presse berichtete gespalten über die Geschehnisse. Zeitungen veröffentlichten Artikel wie „Französische Studenten prügelten auf Polizisten ein“, in dem die Aktivist:innen als brutal und gefährlich dargestellt wurden, oder „Ach, Rostock… Wieder wirft ein Polizeieinsatz Fragen auf“, in dem vor allem die Verhältnismäßigkeit des Polizeieinsatzes infrage gestellt wurde.
Auf der Kundgebung in Rostock werden nun Aufnahmen von Augenzeugenberichten beteiligter Aktivist:innen gespielt. Die Stimme eines Mannes ist durch den Lautsprecher zu hören: „Während der Angriffe in Lichtenhagen hat die Polizei nicht eingegriffen. Als wir festgenommen wurden, wurden wir wie Verbrecher behandelt. Wir wurden verhört, es wurden Fotos gemacht und unsere Fingerabdrücke wurden genommen“. Letztendlich seien Sinti:zze und Rom:nja doch nach Rumänien abgeschoben worden und die Mahntafel wurde vom Rathaus entfernt. Carsten Penzlin erzählt schließlich von der Suche nach der verschwundenen Tafel, die nicht gefunden werden konnte. Vor dem Rathaus sei eine Replika angebracht worden, erklärt Penzlin, die zwei weitere Male entwendet wurde, bevor der Täter gefasst werden konnte. Heute hängt die Mahntafel am Seiteneingang des Rathauses, wo sie jedoch häufig ignoriert werde.
Mit etwas Verspätung fährt der Bus kurz vor 11 Uhr vom Rathaus ab, in Richtung Schwerin. Während der Fahrt über die Autobahn werden weitere Informationen über die Protestaktion der F.F.D.J.F. verteilt und es wird ein Podcast über die Entstehung der Erstaufnahmestelle in Horst abgespielt. Nach den Angriffen auf das Sonnenblumenhaus wurde sie dorthin verlegt, an den äußersten Rand von MV. Julia vom Bündnis Pro Bleiberecht hält dazu an, sich einmal umzuschauen, um sich mit den Mitreisenden auszutauschen. Dafür bleibt jedoch kaum Zeit, da der Bus bereits kurze Zeit später vor dem Innenministerium in Schwerin hält.
„Aber entschuldigen Sie. Glauben Sie nicht auch Deutschland den Deutschen? Ausländer raus! Fidschis raus! Die sind doch alle dreckig! Das sind doch keine Menschen, das sind doch alles Schweine. Machen alles dreckig!“, sind die ersten Worte, die zu hören sind, nachdem alle aus dem Bus ausgestiegen sind. Sie kommen aus einem Lautsprecher und sind Teil des Hörspiels Das Sonnenblumenhaus von Thy Nguyen. Dieses basiert auf Transkriptionen von Interviews mit Überlebenden und rekonstruiert die Geschehnisse des Pogroms.
Die gerade angekommenen Busreisenden setzten sich auf den Platz vor dem Pfaffenteich. Viele suchen Schutz vor der Mittagssonne, indem sie sich in den Schatten des Busses oder der umliegenden Gebäude setzten. Auch hier werden, wie schon in Rostock, Banner auf den Boden gelegt. Nachdem das Hörspiel zu einem Ende kommt, meldet sich Nguyen zu Wort. Seit seine Recherche 2011 begonnen hat, habe sich einiges verändert. Vor 20 Jahren habe sich noch kaum jemand für die rassistischen Angriffe interessiert. „Wenn Vertragsarbeiter:innen sich geäußert haben, wurde ihnen teilweise aufgelauert und sie wurden auf der Straße verprügelt“, erzählt er. Doch auch heute sei die Aufarbeitung noch nicht vorbei. „Der größte Fehler ist es, dass alle 5-10 Jahre Lichtenhagen zum großen Buhmann wird. Dabei sprechen wir jedoch nicht über die Verantwortung der Stadt oder des Landes“, kritisiert Nguyen den Umgang mit dem Pogrom. In weiteren Redebeiträgen kommt zum Vorschein, dass eben dies der Grund für die Kundgebung sei, um auf das Innenministerium MV als vergessenen Täter aufmerksam zu machen. Schließlich wird es etwas lauter. Die Protestierenden beginnen „Kein Mensch ist illegal! Bleiberecht überall!“ zu rufen. Dann findet auch die Kundgebung in Schwerin ein Ende und der Bus füllt sich wieder, bis nur noch ein Platz übrigbleibt.
Der Weg nach Nostdorf-Horst führt zunächst eine ganze Weile über die Landstraßen von MV. Auf dem Weg ergibt sich schließlich die Möglichkeit, sich etwas mit den Teilnehmenden der Busfahrt zu unterhalten. Ein 2017 aus Afghanistan Geflüchteter erzählt von seiner Zeit in der Erstaufnahmeeinrichtung in Horst. Er erinnere sich nicht gerne an die Zeit. Es habe wenig Essen gegeben und geschmeckt habe es auch nicht. Niemand hätte länger als zwei oder drei Tage aus der Einrichtung fernbleiben dürfen. Das Schlimmste sei jedoch die Abschottung gewesen, in der er dort gelebt hatte. Die Mahnwachen hätten ihm schließlich geholfen, Kontakte zu knüpfen. Heute sei er Mitglied bei Jugend Spricht, um von seinen Erlebnissen zu erzählen und die Lage an die Öffentlichkeit zu bringen. Gegen 15 Uhr biegt der Bus mitten im Wald, hinter einer kleinen Bushaltestelle, rechts ab. Hinter den Bäumen erscheint die ehemalige Grenzkaserne, die hier einmal stand, bevor sie zur Erstaufnahmeeinrichtung umgebaut wurde. Der Bus wird schon erwartet. Einige Geflüchtete haben sich auf dem Parkplatz bereitgehalten und einen Lautsprecher mitgebracht, aus dem nun Musik zu hören ist.
Angekommen in Nostdorf-Horst werden einige Bierbänke und Tische für die Kinder aufgebaut. Im Schatten des Busses dürfen sie nun zeichnen, basteln und mit Seifenblasen spielen. Die Erwachsenen fangen an, zu der Musik zu tanzen. Nach und nach finden sich Geflüchtete und Protestierende zusammen, um gemeinsam zu tanzen. Letztendlich endet die Musik und die Redebeiträge beginnen. Jetzt spricht der Vertreter von Jugend Spricht, aus dem Bus, vor allen. Bevor die Rede beginnt, werden Übersetzungsgruppen, in den Sprachen Englisch, Französisch, Spanisch und Persisch, gebildet. Er erzählt, dass er im Krieg geboren sei. „Wenn wir Raketen gehört haben, hat meine Oma uns ins Hinterzimmer geführt. Es war dort nicht wirklich sicherer, hat sich jedoch so angefühlt“, erzählt er mit einem Zittern in der Stimme. Mit dieser Geschichte sei er kein Einzelfall. „Zu den Anstrengungen der Flucht kommen dann noch die psychischen und physischen Belastungen in diesen Lagern“, erklärt er weiter. Diese Erfahrungen in Horst hätten ihn letztendlich dazu gebracht, politisch aktiv zu werden. Etwas später nimmt eine Frau, die aktuell in Horst ist, ihren Mut zusammen und greift zum Mikrofon. Sie spricht auf Persisch. Satz für Satz wird ihre Rede übersetzt. Seit sechs Jahren sei sie von ihrem Mann getrennt. Sie habe versucht, eine Zusammenführung zu erwirken, was jedoch gescheitert ist. Diese Erstaufnahmeeinrichtung fühle sich fast an, wie ein Gefängnis.
Nach einigen weiteren Reden macht sich der Bus wieder auf den Weg nach Rostock. Auf der Rückfahrt wird nicht viel gesprochen. Der Sprecher von Jugend Spricht erzählt, dass er sehr geschafft sei. Die Erlebnisse des Tages hätten viele Erinnerungen aus seiner Zeit in Horst zurückgebracht. Gegen 19 Uhr erreicht der Bus Rostock und der Tag findet sein Ende.