Zu einfach um wahr zu sein
Von Lena-Sophie Rautenberg // Grafik von Josephin Bauer
Das erste Mal ist mir der BMI in der 6. Klasse begegnet. Das Fach hieß noch NaWi (NAturWIssenschaften), war also noch nicht einmal in Chemie, Physik und Biologie aufgeteilt. Wir haben uns mit Ernährung beschäftigt, aber heute habe ich keine Ahnung mehr von den Verdauungsvorgängen im menschlichen Körper, stattdessen erinnere ich mich sehr genau an die Stunde, in der es hieß: „Wir berechnen heute euren BMI, wer von euch kennt denn sein Gewicht?“. Eine kurze Rechnung und ein Blick in eine laminierte Tabelle verriet allen, was das eigene Körpergewicht zu bedeuten hatte – unter-, über- oder normalgewichtig. Es war sehr einfach – zu einfach?
Was ist der BMI?
Der BMI (Body-Mass-Index) ist ein Verhältniswert des Körpergewichts (kg) zur Körpergröße (m) zum Quadrat und dabei die „gebräuchlichste Formel zur Bewertung des Körpergewichts“ [1]. Bei der Berechnung ergibt sich ein zweistelliger Zahlenwert (in kg/m²), der dann bei Abgleich mit einer Tabelle verrät, ob man normal-, unter- oder übergewichtig [2] ist, je nach Quelle in verschiedenen Abstufungen und leicht unterschiedlichen Intervallen.
Woher kommt der BMI?
Um einige der Probleme des BMI genauer zu ergründen, ist es relevant, die Geschichte des BMI zu kennen. Der BMI wurde im frühen 19. Jahrhundert nicht etwa von einem Mediziner, sondern vom Mathematiker Adolphe Quetelet erfunden [3]. Der Mathematiker und „Gründer der Sozialstatistik“ war nicht etwa auf der Suche nach einer Formel für die menschliche Gesundheit, sondern wollte beweisen, dass es für alle messbaren Merkmale des Menschen einen Durchschnittswert geben musste, der sich auf einer Gauß’schen Normalverteilungskurve auftragen ließ. Unter diese Merkmale fielen seiner Meinung nach unter anderem Körpergröße, Lebenserwartung, Neigung zur Kriminalität und eben der von ihm entwickelte „Quetelet-Index“ – der heutige Body-Mass-Index [4].
Der Quetelet-Index fand allerdings zunächst über seine mathematischen Überlegungen hinaus keine Anwendung und geriet so in Vergessenheit. Erst 1972, als der amerikanische Physiologe Ancel Keys auf der Suche nach einer Kenngröße für Fettsucht auf die Formel stieß, wurde sie unter dem neuen Namen wiederbelebt. Da der Index so einfach und günstig zu berechnen war, fand er schnell weiträumige Anwendung. [3]
Wo wird der BMI heute angewandt?
In Folge seiner weiten Verbreitung begegnet man dem BMI inzwischen an jeder Ecke. Bei einigen medizinischen Untersuchungen wird der BMI als Kennwert für Übergewicht und mögliche Folgeerkrankungen ermittelt. Andere medizinische Einrichtungen und auch Krankenkassen fragen gerne nach dem Wert, um den Gesamtgesundheitszustand und die Lebenserwartung einschätzen zu können – so auch viele Lebensversicherungen und sogar die Bundeswehr [5,6].
Was ist das Problem?
Schon bei Betrachtung der Formel an sich fallen einige Schwachstellen ins Auge:
- Bei der Berechnung wird das Alter außen vorgelassen. Offensichtlich ist das Optimalgewicht einer 14-jährigen Person ein anderes als das einer 50- oder 80-jährigen.
- Ebenfalls ignoriert wird hier das Geschlecht, dabei ist inzwischen weit bekannt, dass Fettverteilung und ein gesundes Gewicht sich stark zwischen biologischen Geschlechtern unterscheiden [2,3].
- Ein wenig weiter gedacht ist zu bedenken, dass das reine Gewicht in Kilogramm keinerlei Aufschluss darüber gibt, woraus es sich zusammensetzt [1,2]. Eine Person mit einem „zu hohen“ Körpergewicht kann je nach Körperfett- und Muskelanteil sehr unterschiedlich gesund sein. [7]
Zumindest für die ersten zwei Probleme finden sich inzwischen relativ einfache Lösungen, ob nun auf einer Webseite oder einer manuellen Tabelle, kann zwischen biologischen Geschlechtern und Altersgruppen differenziert werden.
Für die dritte Problematik bieten sich verschiedene Möglichkeiten an, z.B. eine Messung des Bauchumfangs [1] oder andere medizinische Untersuchungen, wobei man sich hier fragen kann, ab wann eine „simple Formel“ überflüssig wird, wenn sie ohne weitere Hilfsmittel nicht mehr aussagekräftig ist.
Über diese Kritikpunkte hinaus ergeben sich bei genauerer Betrachtung jedoch noch weitere Grenzen und Probleme des BMI.
Hier fallen zwei Faktoren zusammen: Zum einen scheint die Festlegung der sogenannten „cut points“, also die Grenze der Gewichtsklassen, beinahe beliebig gewählt worden zu sein. Möglicherweise allein, da runde Zahlen in der Regel bevorzugt werden [H]. Zum anderen kommt dazu, dass die Gewichtsklassen für Menschen aus marginalisierten Gruppen nicht zutreffen. Die Untersuchungen, die Quetelet zur Belegung seiner Formel durchführte, beruhten ausschließlich auf den Messungen weißer Männer [3]. So hat die WHO eine aktualisierte BMI-Tabelle für „Asian populations“ herausgegeben [8] doch auch auf People of Color scheint die Einordnung in die BMI-Klassen sowie die damit verbundenen Risikofaktoren wie Diabetes oder Herzkreislauferkrankungen nicht zuzutreffen [9].
Wie aussagekräftig ist der BMI?
Die Aussagefähigkeit des BMI bei Einzelpersonen ist also aus verschiedenen Gründen anzuzweifeln: Faktoren wie Geschlecht, Alter und sportliche Betätigung können dabei nicht außen vorgelassen werden [2].
Was aber, wenn die Verwendung selbst bei gesamtgesellschaftlichen Betrachtungen fehl am Platz ist? Der BMI wird bei solchen Betrachtungen als Kennwert für Übergewichtigkeit in einer Menschengruppe angenommen. Die Grundannahme hierbei: Übergewicht führt zu einer niedrigeren Lebenserwartung, besonders Erkrankungen des Herzkreislaufsystems werden durch Übergewicht begünstigt und führen so im Durchschnitt zu einem früheren Tod [5]. Und genau das scheint ein Trugschluss zu sein: Sogenannte Kohortenstudien weisen seit einiger Zeit darauf hin, dass erwachsene Menschen mit Übergewicht bis Adipositas Stufe 1 eine höhere Lebenserwartung aufweisen. Dies gilt insbesondere für ältere Menschen. Die Lebenserwartung sinkt erst bei einem BMI von 20 oder starker Adipositas [7]. Hierbei sind zwar eindeutig noch weitere gesundheitliche sowie sozioökonomische Faktoren zu beachten, es unterstreicht jedoch erneut, dass eine Betrachtung des BMI auch bei einer Gesamtbevölkerung zu vielen Trugschlüssen führen kann.
Der Body-Mass-Index hat es von seinem Ursprungsgedanken weit geschafft. So begegnet er einem heute in allen möglichen Zusammenhängen und verbunden mit den verschiedensten Behauptungen. Es scheint verlockend, dass eine so einfach zu berechnende Zahl eine so große Bedeutung haben könnte. Doch bei genauerer Betrachtung fallen einem schnell viele Lücken und Grenzen des Index auf. Schließlich ist es am Ende nicht mehr als ein Verhältnis von Körpergewicht zu Körpergröße und die Bedeutung dieses Verhältnisses scheint sowohl zwischen verschiedenen Personengruppen als auch in gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen mehr Fragen aufzuwerfen, als er beantworten kann und sollte.
Falls ihr noch mehr zum Thema Body Image, Pretty Privilege oder dem „That-Girl“-Trend lesen möchtet, schaut doch mal in unser neues Heft! Es erscheint im Oktober, passend zum Semesterstart.
Quellen
[1] BMI-Rechner [zuletzt: 6.09.22]
[2] A healthy lifestyle – WHO recommendations [zuletzt: 6.09.22]
[3] Geschichte des BMI [zuletzt: 6.09.22]
[4] Adolphe Quetelet (1796–1874): Der mittlere Mensch [zuletzt: 6.09.22]
[5] US-Forscher zweifeln am Nutzen des Body-Mass-Index [zuletzt: 6.09.22]
[6] BMI im grünen Bereich? Das verbirgt sich hinter dem Body Mass Index [zuletzt: 6.09.22]
[7] Aus dem Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin: Dicke leben länger [PDF] [zuletzt: 6.09.22]
[8] Appropriate body-mass index for Asian populations and its implications for policy and intervention strategies [zuletzt: 6.09.22]
[9] Why BMI is a flawed health standard, especially for people of color [zuletzt: 6.09.22]