Pliés gegen Klischees

Von Ella Rennert // Illustration von Emma Moehrke

Menschen haben eine Vorliebe dafür, Dinge zu beurteilen, von denen sie selbst keine Ahnung haben. Ich selbst gehöre dazu. Ich dachte immer, Ballett wäre der beliebteste Sport für Mädchen, bis irgendwann die Hälfte der Mädchen aus meiner Gruppe zum Reiten gewechselt sind.

Dafür, dass Ballett eine sehr bekannte Tanzart ist, ist es für diejenigen, die nie getanzt haben, ein Mysterium. Es ranken sich die verschiedensten Gerüchte und Vorurteile über diesen Sport. Im Folgenden gehe ich auf eine Auswahl davon genauer ein. Starten wir doch mit…

 

„Das ist doch gar kein richtiger Sport.“

Leicht zu behaupten für jemanden, der noch nicht selbst eine Ballettstunde besucht hat.

Wer selbst keine Ballerina kennt, kann ja mal googeln und sich angucken, wie muskulös professionelle Tänzerinnen und Tänzer sind. Und habt ihr schon einmal probiert, euer ganzes Gewicht auf den Zehenspitzen zu balancieren?

Teilweise ist es mir ein Rätsel, warum Menschen behaupten, Ballett sei nicht anstrengend. Ich habe immer ein Bild im Kopf von Männern, die unglaublich hoch und vor allem oft springen. Aber dann fällt mir ein, wie unser Training aussieht:

Die Technik erlernt man an der Stange. Der Trainer oder die Trainerin macht eine Schrittkombination vor, die wir zu einem Gedudel aus Pianomusik nachmachen. Diese Kombinationen dauern für gewöhnlich ein bis zwei Minuten. Der Schwierigkeitsgrad steigert sich dabei stetig. Da immer nur eine Körperhälfte beschäftigt ist, wiederholt man das ganze nochmal auf der anderen Seite. Das sieht von außen wohl sehr unspektakulär aus. Es ist auch ehrlich gesagt recht eintönig. Aber durch die Übungen lernt man, wie man seinen Körper zu kontrollieren hat, um später in den Choreographien die Schrittfolgen richtig ausführen zu können.

Zwei Minuten können ganz schön lang sein. Der Körper befindet sich in einer dauerhaften Anspannung. Wenn die Musik endet, heißt es erst einmal tief durchatmen. Der Schweiß fließt und die Wasserflaschen werden mittendrin neu aufgefüllt. Am Anfang des Trainings knackten bei uns überall die Knie und am Ende des Trainings tun die Füße weh, egal ob Spitzenschuhe getragen wurden oder nicht. Muskelkater ist an der Tagesordnung.

Klar, Ballett erfordert einfach eine andere Art der Kondition wie zum Beispiel Leichtathletik, deswegen können Sportarten auch nur schlecht verglichen werden. Aber es ist nicht zu leugnen, dass Ballett nicht genauso anstrengend ist, wie andere Sportarten.

 

„Ich hab gehört, das ist voll streng.“

Im Ballett ist Disziplin gefragt, das steht außer Frage. Aber wie streng das Training ist, das ist an verschiedenen Faktoren zu messen.

Jede:r, der in Amateurvereinen tanzt, macht ganz andere Erfahrungen als die, die in Ballettinternaten lernen. Ich persönlich habe in einem Verein getanzt, in dem die Trainer nicht streng im Sinne des Wortes waren. Aber es war deutlich zu merken, dass die Trainer Ambitionen hatten. Die Atmosphäre war immer lustig und locker, doch sobald die Musik zu spielen begann, wurde der Fokus-Modus eingeschaltet.

Ballett ist streng, weil es viel zu beachten gibt. Von den Zehenspitzen bis hin zu den Fingern ist alles geregelt. Füße strecken, Füße auswärts drehen, Knie durchdrücken, Arme rund aber lang, hoch, aber nicht zu hoch, Daumen an den Mittelfinger, Hand abgerundet aber als Verlängerung des Armes gestreckt, Bauch rein, Po rein, kein Hohlkreuz, Kinn hoch, Kopf leicht zur Seite geneigt. Und obwohl du längst aufgehört hast zu atmen, weil dein ganzer Körper angespannt ist, sollst du lächeln und so aussehen, als wäre es das Leichteste der Welt. Das ist die Kunst.

Das Positive daran ist, dass es die Konzentration fördert. Es dauert lange, bis man in der Lage ist, auf alles gleichzeitig zu achten. Das bezieht sich nicht nur auf die Technik, sondern auch auf die Schrittfolgen. Manche Abläufe werden irgendwann Routine, auf andere muss immer wieder neu geachtet werden. Das kann nach einem langen Schul- oder Arbeitstag schon einmal eine große Herausforderung werden. Vor allem, wenn es schon spät ist.

Es gab aber mal eine Zeit, in der ich überlegt hatte, zu einer professionellen Ballettschule zu wechseln. Im Nachhinein bin ich all den Leuten zu Dank verpflichtet, die mir davon abgeraten haben. Tanzen soll mir Spaß machen und ich befürchte stark, dass mir der Leistungsdruck den Spaß genommen hätte. Außerdem will ich gar nicht wissen, wie hoch das Risiko für eine Essstörung ist.

 

„Die tragen da doch alle rosa Tutus.“

Der „Ballet core“ hatte auf TikTok in letzter Zeit einen regelrechten Aufschwung. Mädchen, die sich in komplett rosa einkleiden und Schleifen an Schuhe binden, die an Spitzenschuhe erinnern.

Bei uns waren nur die Einsteigerklassen (Alter: vier bis sechs) in rosa gekleidet. Die höheren Klassen tragen aber weiße Strumpfhosen, schwarze Trikots und hautfarbene Schläppchen. Ballettröcke gab es sehr wohl, Tutus gehörten aber zu den Kostümen und nicht zu den Trainingsklamotten.

Es gibt nur einen wichtigen Grundsatz: Die Klamotten müssen eng anliegen, weshalb Jogginghosen, und eigentlich auch Trainingsjacken, nicht gerne gesehen sind. Denn der Trainer oder die Trainerin muss erkennen können, ob die Bewegungen richtig ausgeführt werden. Ob die Knie gestreckt sind oder nicht, das ist unter weiten Hosen schwierig zu erkennen. Die ein oder andere Person fühlt sich in den hautengen Trikots und Strumpfhosen dementsprechend nicht unbedingt wohl, was verständlich ist.

Zum anderen hat die Klamottenwahl wohl auch einen Einfluss auf das nächste Klischee:

 

„Ballett ist nur was für Mädchen.“

Guckt man sich die Männerquote in den Ballett-Vereinen mal an, dann müsste man der Behauptung Recht geben.

Bei uns im Verein gab es exakt einen Mann: unseren Trainer. Wir haben oft versucht, Werbung für einen Kurs für Jungen zu machen, was kläglich gescheitert ist. Ob es an den Strumpfhosen oder dem Männerbild liegt? So oder so ist es schade, gerade wenn Schamgefühle im Vordergrund stehen. Wer tanzen will, soll tanzen. Ballett ist kein Mädchensport. Es ist offen für jedermann. Wortwörtlich. Manchmal muss man nur im Spagatsprung über den eigenen Schatten springen.

Natürlich können auch Frauen Hebefiguren machen. Aber um auch nochmal auf den Punkt von vorhin einzugehen: Ballett ist besonders für Männer ein unglaublicher Kraftakt. Hebefiguren sowie Sprünge erfordern Muskeln. Das ist nicht zu unterschätzen. Daher ist Ballett fantastisch, um Kraft und Disziplin zu trainieren und dabei den eigenen Körper völlig neu kennenzulernen. Das kann auch nicht schaden.

Ballett ist also ein Sport, der zwar Disziplin erfordert, aber auch sehr viel Spaß macht. Daher rate ich jedem, aus reinem Interesse eine Ballettstunde mitzumachen um mal am eigenen Leib zu erleben, worauf es beim Tanzen ankommt.

Und an die Männer: Traut euch doch mal. Tanzen befreit und ist nichts, wofür man sich schämen muss. Nur mit mehr Männern in Amateurvereinen können wir gegen die Vorurteile ankämpfen. Denn —unter uns— die meisten der oben genannten Vorurteile musste ich mir von meinem Vater anhören.

Deshalb: Mit Pliés gegen Klischees.

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