Der heuler – Winterstory

Ein süßes Sidechapter zu LoveDisaster1 im Rahmen der heuler-Adventsgeschichten.

Von Libra Nash // Illustration von Emma Moehrke

In die Chipstüte gegriffen, schaufele ich mir eine ordentliche Portion Kartoffelchips mit Paprikageschmack in den Mund, während ich Meredith und Cristina aus Greys Anatomy dabei zusehe, wie sie miteinander streiten. Den beiden mangelt es am Christmas Spirit, wie mir scheint und damit sind sie auch nicht die Einzigen. Mir muss der Blick nur nach links und rechts ausrutschen. Nathan löst Kreuzworträtsel, er schaut nur gelegentlich über den Rand der Zeitung hinaus, wenn mal wieder jemand auf dem OP-Tisch liegt. Bei Damien sieht das ähnlich aus. Er verteidigt sein Gebiet in Clash of Clans und mopst mir gelegentlich Chips. 

Das Weihnachtlichste hier ist der halb aufgegessene Schokoweihnachtsmann, den Mom mir vorgestern vorbeigebracht hat, weil sie über die Weihnachtstage wieder arbeiten muss. Wir haben keinen Baum, keinen Schwibbogen und keinen Adventskranz. Uns fehlt die Magie. Die Magie von Weihnachten, die jährlich mehr verschwindet, je älter ich werde. Schade eigentlich.

„Sagt mal, hat Weihnachten für euch auch irgendwie den Glanz verloren?“, knuspere ich und rutsche tiefer in die Couchkissen. Ohne hinzusehen, weiß ich, dass mich zwei hochgezogene Augenbrauen treffen. „Ich meine, fühlt sich Weihnachten für euch noch so an, wie damals, als ihr noch Kinder wart? Vielleicht liegt’s ja an mir, meine Familie kommt seit Jahren nicht mehr zu Weihnachten zusammen, aber irgendwie fehlt mir die Magie.“

Links neben mir raschelt es, Nathan legt die Zeitung weg.

„Was macht Weihnachten denn für dich aus?“

„Bitte sag nicht Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, wird rechts gestöhnt, Damien.

Ein Grinsen kann ich nicht unterdrücken, denn ja, auch der Film gehört irgendwie dazu. Zumindest bis zur siebten Wiederholung.

„Von simplen Dingen, wie einem waschechten, geschmückten Weihnachtsbaum, Plätzchenbacken und Geschenke verteilen, bis zu den Familientraditionen, wie der hausgemachte Kartoffelsalat meiner Mom oder die Eis-Zimtsterne, die es immer nur an Heiligabend gab.“

Für den Bruchteil einer Sekunde besucht mich der Geist der vergangenen Weihnacht – aller vergangenen Weihnachten – und ich sehe Klein-Kate vor dem Tannenbaum sitzen, ein Schaukelpferd auspacken und die Familie mit den eingebauten Hufgeräuschen nerven, während im Hintergrund die tausendste Wiederholung von Last Christmas dudelt. 

Wann hat es aufgehört, sich genau so anzufühlen? Wann ist Weihnachten nur noch ein weiterer Feiertag geworden, an dem das anstrengende Leben mal pausiert?

„Hm“, Nathan fasst sich nachdenklich ans Kinn. „Ich weiß nicht genau, ob ich das verstehe. Arthur verwandelt das Haus zur Weihnachtszeit in ein regelrechtes Wunderland.“

„Stimmt“, fügt Damien an. „Dad macht es einem nicht leicht, sich nicht weihnachtlich zu fühlen.“

Meine Lippen pressen sich zu einem Strich zusammen. Es kann wohl nicht jedem so gehen wie mir, oder? Vermutlich wurmt mich das auch nur so sehr, weil das mein erstes Weihnachten allein sein wird. Meine Mitbewohner fahren zu ihrem Vater und ich verbringe die Feiertage allein in der WG.

Die Chipstüte auf den tiefen Kaffeetisch gelegt, drücke ich mich vom Sofa auf.

„Na ja, vielleicht kommt der Weihnachtsspirit ja auch erst, wenn ihr endlich verduftet“, necke ich die zwei und strecke ihnen meine Zunge raus. „Ich schmeiß mich hin.“ Die Fleecedecke, die mich bis eben noch zugedeckt hat, ziehe ich mir nun um die Schultern und schlurfe zur Wohnzimmertür hinüber. „Sollten wir uns morgen nicht mehr sehen; frohe Weihnachten.“

Wieso hat sich dieser Satz überhaupt nicht ernst gemeint angehört…? 

***

Die frische Winterluft, die sich durch mein angekipptes Fenster Zutritt verschafft, weckt mich. Sobald ich mich aufsetze und hinaus in den Hinterhof sehe, entdecke ich, dass es seit Jahren endlich mal wieder deckend geschneit hat. Ein weißes Wunderland liegt da unten, doch meine hängenden Mundwinkel bleiben eingefroren.

Juhu. Frohe Weihnachten, Kate. 

Hast du eigentlich eingekauft? Oder musst du demütigenderweise eine einsame Pizza beim Lieferanten bestellen? Liefert an Weihnachten überhaupt jemand? Das werde ich wohl gleich herausfinden. Ist ja auch schon nach eins, da kann man sich an Weihnachten schon mal mit einer Party-Pizza beschenken.

In meiner blau-grau karierten Pyjama-Hose und dem Trägertop, auf dem Rentiere drauf sind, die … sich vergnügen … schleppe ich mich aus meiner Zimmertür.

Und WHAM!

Im zweideutigen Sinn. 

Wham! erschlägt mich – WHAM – mit dem Glöckchen-Klingeling ihres unvergesslichen Weihnachtshits. 

Und WHAM, ich bin wach. Als Nathan mit einer großen Schüssel an mir vorbeisaust und dabei selbst eine niedliche Pyjama-Hose und einen kunterbunten Weihnachtspullover mit Spongebob und Patrick darauf trägt, frage ich mich trotzdem noch einmal, ob ich nicht noch träume.

„Guten Morgen, Kate. Kommst du mit ins Wohnzimmer?“

„Ja, klar“, murmle ich überfordert und hefte mich an seine Fersen. 

Je näher ich der offenen Wohnzimmertür komme, aus der der Duft von frisch gebackenen Plätzchen strömt, desto weiter klappt mir der Mund auf. Ein glitzernder Weihnachtsbaum, mit Lametta mumifiziert, schmückt die Ecke neben dem Fernseher. Darunter türmen sich ein paar Geschenke. Auf dem Kaffeetisch entdecke ich eine Etagere mit Keksen, daneben ruht eine Karaffe mit Milch. In den Fenstern hängen Lichterketten und ein Schwibbogen peppt das Fensterbrett auf. 

Ich muss träumen. Anders geht das gar nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Kopf nie die nötige Fantasie aufgebracht hätte, um sich Damien-den-Bad-Boy-Dorset in einem Ho-Ho-Ho-Weihnachtspullover vorzustellen, auf dem eine fette Grumpy Cat mit Santa-Hut abgebildet ist.

„Sag es nicht“, mahnt er vom Sofa aus.

„Du und Grumpy zieht dasselbe Gesicht.“

Er mimt mich nach, bevor er neben sich greift und mich mit etwas abwirft, das ich gerade so gefangen bekomme.

„Is‘ für dich. Damit wir alle hässlich rumlaufen.“

Ich stülpe mir den weißen Pullover über den Kopf und schaue mich dann in der Spiegelung der Schrankwand an. Auf dem Pulli ist ein Skelett mit Weihnachtsmütze abgebildet, das schreibt „When you’re dead inside but it’s christmas.“

„Haha, sehr lustig.“ Es ist lustig.

Damien fährt sich triumphierend mit der Zunge über die Zähne und drückt sich dann von der Couch auf. Wir treffen uns bei Nathan am Esstisch. Die kleine Tafel ist auch weihnachtlich geschmückt. In der Mitte steht eine große Schüssel mit Kartoffelsalat und daneben ein dampfender Topf mit Würstchen darin.

„Na los, sonst wird das Essen kalt.“

Wir setzen uns an unsere Stammplätze, Nathan füllt jedem zwei Würstchen auf und ich darf mir zuerst vom Kartoffelsalat nehmen. Sobald alle etwas auf ihren Tellern haben, wird der erste Gabelstich gesetzt. Der Kartoffelsalat schmeckt ziemlich vertraut.

„Ist nicht wahr!“, schnaube ich mit vollem Mund.

„Wir waren gestern vor Ladenschluss noch im Supermarkt und standen heute Morgen bei deiner Mutter in der Tür. Sie hat wahrlich ein Weihnachtswunder vor ihrer Schicht vollbracht.“

„Ihr seid krank. Total krank.“

„Oder einfach die Retter von Weihnachten“, scherzt Damien. Ich verdrehe gespielt die Augen.

„Aber was ist mit eurem Vater? Ihr habt ihn doch nicht sitzen lassen?“

Nathan schüttelt den Kopf, da schiebt er sich gerade eine Gabel in den Mund.

„Nur vertagt, auf später. Und ihm gesagt, dass wir Besuch mitbringen.“

Plötzlich wird mein Besteckt in meinen Händen ganz schwer, dass beides auf meinen Teller sinkt.

„Ihr hättet das echt nicht machen müssen, das wisst ihr, oder?“

„Pscht.“ Damien drückt seinen Zeigefinger auf seine Lippen. „Iss lieber auf oder es gibt keine Geschenke.“

Das tue ich. Ich pfeife mir drei Teller von diesem Kartoffelsalat rein, ohne Hintergedanken an den Nachtisch. Aber es ist ja allgemein bekannt, dass wir für Nachtisch einen Extramagen haben, darum sage ich zu den Zimtsternen auch nicht nein. 

Mittlerweile ist es dunkel draußen, im Hintergrund läuft – zum Leidwesen von Damiens Nerven – Drei Haselnüsse für Aschenbrödel und wir sitzen vor dem Weihnachtsbaum. Darunter liegt nur ein Geschenk. 

„Mein Geschenk war der Pullover, mehr kriegst du nicht.“ Damien und ich strecken uns gegenseitig die Zungen heraus. 

Dann werde ich allerdings von Nathan abgelenkt, der das Schächtelchen greift und mir zuschiebt. Mit einem Blick frage ich an, ob ich es öffnen darf und er nickt. Ich hebe den Deckel ab. Darin bettet sich ein Zettel, den ich herausnehme und auffalte. 

1x Weihnachten wie in Kindertagen steht darauf geschrieben. Ich ziehe einen Schmollmund, um die Tränen wieder in meinen Hinterkopf zu verbannen.

„Für nächstes Jahr“, grinst Nathan. Mein Herz wird ganz warm.

„Dann kriegst du nen neuen“, schnaubt Damien.

Das wohlige Gefühl in meiner Brust lässt mich den beiden um die Hälse springen.

„Danke, ihr habt mein Weihnachten gerettet.“ Ich streiche nachdenklich mit den Daumen über den Gutschein. „Aber … ich hab überhaupt nichts für euch.“

Und das liegt definitiv nicht daran, dass ich die Wasserrechnung wieder so weit in den Kosmos geballert habe, dass die Nachzahlung mich arm gemacht hat. (Liegt doch daran.)

„Keine Sorge, dein Lächeln reicht uns“, murmelt Damien unter der Hand und weicht mir und meinen roten Wangen aus.

„Also lächle einfach noch mal für uns, okay?“, schmunzelt Nathan nun. 

„Okay!“, grinse ich mein breitestes Lächeln. 

Frohe Weihnachten, ihr beiden. 

 

Über die Autor:in

Libra Nash (she/he/they) hat bereits mehrere Romane veröffentlicht und schreibt rund um die Uhr an weiteren humorvollen und romantischen Projekten. Zwischen dem Filmproduktionsstudium in Rostock und Beiträgen auf Instagram pflegt Nash als libra.nash.autorin engen Kontakt zu allen lesebegeisterten Fans, die sich in Geschichten hineinträumen wollen. Im Frühjahr 2023 erscheint der dritte Teil der LoveDisaster-Reihe. Die Kurzgeschichte dieses Beitrags bietet einen Einblick in das Leben der Protagonist:innen während der Weihnachtszeit.

 


 

Besonderer Dank gilt Vanessa Stöter für die Idee zu diesem „Adventsgeschichten“-Projekt und das Kontaktieren der beteiligten Autor:innen.

 

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