1 Jahr danach

1 Jahr danch

Trigger Warnung:

Der folgende Artikel beinhaltet Themen über Mord, Rassismus, Gewalt und psychische Erkrankungen. Wenn Du Dich damit nicht wohlfühlst, lies diesen Artikel nicht oder hol Dir eine Person Deines Vertrauens dazu.

von Tanja Krause // Grafik von Marie Kurz-Filipski

Am 19. Februar 2020 wurden in Hanau 9 junge Menschen bei einem rassistisch motivierten Anschlag getötet. Was hat sich seitdem getan?

Niemals vergessen: in Gedenken an Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. #saytheirnames*

*mit diesem Hashtag wird an die Opfer des 19. Februar 2020 in Hanau im Netz erinnert

Was geschah am 19. Februar 2020?

19. Februar 2020 am Heumarkt in Hanau, kurz vor 22 Uhr:

Ein Viertel, das auch nachts gut belebt ist. Der Mann, der die Straße hinunterläuft, hat in seiner Hand eine Pistole. Er stürmt in die Bar „La Votre”, in der Kaloyan Velkov hinterm Tresen arbeitet. Er ist sein erstes Opfer.

An diesem Abend wird der 43-jährige Rechtsextremist Tobias R. in Hanau (Hessen) noch acht weitere Menschen mit Migrationshintergrund töten. All seine Opfer hatten unterschiedliche Nationalitäten. Drei von ihnen besaßen die deutsche Staatsbürgerschaft, zwei die türkische. Ein weiteres Opfer stammt aus Bulgarien, ein anderes aus Rumänien. Ein Opfer kommt aus Bosnien-Herzegowina, und ein Opfer hat eine deutsche und eine afghanische Staatsangehörigkeit. Nach der Tat tötet er seine Mutter und begeht Suizid. Sechs Menschen werden schwer verletzt.

Auch ein Jahr nach dem Anschlag sitzen der Schock und die Trauer tief. Vor allem für die Angehörigen ist nichts mehr so, wie es einmal war. Nicht nur in Hanau, sondern deutschlandweit haben seitdem etliche Mahnwachen und Demonstrationen zum Gedenken an die Opfer stattgefunden. Die Aufklärung des Anschlags dauert nach mehr als 365 Tagen immer noch an. Einige Hinterbliebene fühlen sich von der Polizei im Stich gelassen. Bis heute gibt es tatsächlich viele offene Fragen. Darunter folgende:

  1. Der Täter Tobias R. hat einige Tage vor der Tat sein von Fremdenhass geprägtes Weltbild in rassistischen Botschaften und Videos öffentlich bekannt gemacht. Aus diesen geht hervor, dass er in der Vergangenheit wiederholt Anzeigen an die Polizei Hanau und den Bundesgeneralanwalt gestellt hat. Der gebürtige Hanauer gab darin an, sich von Geheimorganisationen bedroht und überwacht zu fühlen. Die Polizei erkannte darin keine Gefahr, nahm seine wirren Verschwörungstheorien nicht ernst. Tobias R. blieb unentdeckt. Nach seinem Tod attestierte man ihm eine psychosomatische Erkrankung, genauer gesagt: eine paranoide Schizophrenie, die sich mit einer rechtsextremen Gesinnung vermischte. Würden die 9 jungen Menschen noch leben, wenn die Polizei die Signale in den Anzeigen erkannt hätte? Hätte man seiner rechten Hetze im Netz entgegenwirken können?
  1. Tobias R. besaß als Hobby-Sportschütze zwei Waffen. Auch wenn er bis kurz vor seinem Tod nicht öffentlich als Rassist galt, so gaben seinen wahnhaften Anzeigen Signale auf eine psychosomatische Störung. Im Jahr 2002 wurde er kurzzeitig in eine Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie eingewiesen. Entlassen wurde er mit dem Befund ,,ungeheilt”. Seine Waffenbesitzkarte behielt er. Haben hier bereits Waffenbehörde und Gesundheitsamt versagt?
  1. Kurz vor 22 Uhr am Abend des 19. Februar 2020 im Hanauer Stadtteil Kesselstadt. Villi Viorel Păun sitzt nach Feierabend in seinem silbernen Mercedes. Er arbeitet als Kurierfahrer. Währenddessen rennt Tobias R. von einer Shisha-Bar, wo er bereits fünf Menschen ermordet hat, zum nächsten Tatort. Villi verfolgt ihn bis zur Arena-Bar im Stadtteil Kesselstadt. Währenddessen versucht er nervös, die  Polizei zu kontaktieren. Zweimal, so scheint es, vertippt er sich. Doch drei weitere Male tippt er die 110 korrekt in sein Handy. Doch da ist niemand am anderen Ende der Leitung. Seine Anrufe laufen ins Leere. Villi Viorel Păun wird nicht gehört. Auf dem Parkplatz des dritten Tatorts erschießt Tobias R. den 22-Jährigen durch die Windschutzscheibe. Nach dem Attentat entschuldigt sich die Hessische Landespolizei öffentlich für dieses Versäumen und spricht von einer Unterbesetzung an diesem Abend. Doch wenn dem tatsächlich so war: Hätte man die Anrufe nicht an ein anderes Polizeipräsidium weiterleiten könne? Würde Villi noch am Leben sein?
  1. Fraglich bleibt auch: Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Der Täter ist von einem Tatort zum nächsten gefahren, anschließend zum Haus seiner Eltern, welches nur 300 Meter vom letzten Tatort liegt. Obwohl Passanten bereits am ersten Tatort das Kennzeichen des Fahrzeugs von Tobias R. an die Polizei gemeldet haben, ist der Täter nicht gestoppt worden.
  1. Hamza Kurtović arbeitet am Abend des 19. Februar in der Arena-Bar, als der Täter das Lokal betritt und wild um sich schießt. Auf Überwachungsvideos ist zu erkennen, wie Hamza versucht, durch den Notausgang zu flüchten – vergeblich. Denn die Tür lässt sich nicht öffnen. Personen, die den Anschlag in der Bar überleben, werden später berichten, dass sie vom verschlossenen Notausgang gewusst haben. Die Frage bleibt: War es ein Pakt zwischen Inhaber der Bar und der Polizei? Sollten so mögliche Razzien erleichtert werden? Hätten Hamza Kurtović und all die anderen Opfer überleben können, wäre die Tür des Notausgangs nicht geschlossen?
  1. Die Obduktion der Leichen erfolgte bis auf Herz und Nieren, obwohl die Todesursache bekannt war. Inwiefern war die Obduktion relevant für die Ermittlungszwecke? Viele Angehörige wussten währenddessen nicht, wo sich die Leichen der Verstorbenen befinden würden. Man gab den Hinterbliebenen erst 6 bis 8 Tage nach dem Attentat die Gelegenheit, sich von ihnen zu verabschieden.

Für mich bleibt hauptsächlich die Frage, die sich wohl vielen unter uns stellt: Hätte die rassistische Tat verhindert werden können? Ich spreche den Angehörigen und Hinterbliebenen mein tiefstes Mitgefühl aus, auch wenn ich ihre Trauer nie auf diese Art fühlen kann, wie sie es tun. Sie sind Opfer von Rassismus. Nach dem 19. Februar 2020 haben sie sich zusammengeschlossen: für die Aufklärung der Tat und das niemals endende Erinnern an die Verstorbenen. Im zweiten Teil dieser Reihe werden wir ihre Geschichte genauer erzählen.

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