“Cancel Culture“ – Die Schwierigkeiten einer „Absagekultur“

Cancel Culture

Ein Kommentar

von Sandeep Preinfalk // Grafik von Steffen Dürre

Seit geraumer Zeit taucht in den Medien ein Begriff auf, der unterschiedlichste Emotionen und Assoziationen hervorruft. Die Rede ist von der sogenannten „Cancel Culture“. Dabei handelt es sich um ein politisches Schlagwort, das höchst umstritten und bisweilen negativ konnotiert ist. Doch was hat es mit diesem Phänomen auf sich?

Herkunft und Bedeutung

Die „Cancel Culture“ bezeichnet eine Art Zensurkultur, die (vermeintlich) unzumutbaren und inakzeptablen Meinungen, Verhaltensweisen sowie Handlungen von Personen oder Organisationen mit sozialer Ächtung und Isolation zu begegnen versucht. Sie entstand 2014 in den USA, wo auf Twitter insbesondere Personen aus marginalisierten Gruppen für sie unzuträgliche Meinungen „cancelten“ beziehungsweise aus dem Dialog strichen. Diese Umgangsform besaß aber kaum Ernsthaftigkeit und zielte keineswegs auf einen Boykott oder dergleichen ab. Jedoch griffen immer mehr Betroffene diese Art der Kommunikation auf und forderten zunehmend Konsequenzen für die (scheinbaren) Übeltäter:innen. Unter dem Hashtag „Cancel Culture“ entwickelten sich ganze Protestbewegungen. Damit erlangten vor allem diskriminierte Minderheiten viel Aufmerksamkeit und schafften einen Trend, der mittlerweile immer häufiger in den sozialen Medien und der öffentlichen Diskussion zu beobachten ist.  

Die Problematik der „Cancel Culture“

Die „Cancel Culture“ scheint auf den ersten Blick ein Bekenntnis zu den Menschenrechten und demokratischen Werten zu sein. Tatsächlich kann sie diesen Ansprüchen gerecht werden, wenn sie beispielsweise Antisemit:innen politisch in die Schranken weist und der Öffentlichkeit entzieht. Hetzparolen wird somit entgegengewirkt und Antisemitismus bekämpft. Problematisch wird es ab dem Zeitpunkt, ab dem man nicht mehr lediglich den politischen Standpunkt oder die ideologische Ausrichtung eines Menschen angreift, sondern sich auf seine Person konzentriert. Daraus resultiert ein direkter Angriff auf die Person, der oftmals in Beleidigungen, Drohungen und dem Verbannen aus sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen mündet. Zwar darf Antisemitismus unter keinen Umständen toleriert werden, Terror oder Gewalt gegenüber Menschen (auch Antisemit:innen) aber ebenso wenig. Solange sie keine Gewalt anwenden oder Verbrechen verüben, sollte man seine Wut ihnen gegenüber im Zaum halten, auch wenn ihre Weltanschauung noch so verachtenswert sein mag. Die „Cancel Culture“ soll natürlich die Verbreitung von Judenhass unterbinden und darf dafür auch die Verantwortlichen mundtot machen oder zur Rechenschaft ziehen, aber alles darüber hinaus geht meistens zu weit. Außerdem handelt es sich bei den Zielpersonen der „Cancel Culture“ nicht immer um echte Rassist:innen, Antisemit:innen, Sexist:innen oder dergleichen. Denn nicht selten werden einzelne kontroverse Aussagen übertrieben dargestellt und entsprechend bewertet. Ein Beispiel hierfür liefert der Skandal rund um Jens Lehmann. Der ehemalige Nationaltorhüter verlor aufgrund einer rassistischen Äußerung seinen Posten im Aufsichtsrat des Fußballvereins Hertha BSC. So nannte er den Fußballspieler Dennis Aogo einen „Quotenschwarzen“, was Empörung in den sozialen Medien auslöste. Schlussendlich entschied sich der Hertha BSC, die Zusammenarbeit mit Jens Lehmann vollends zu beenden. Ohne Zweifel war die Aussage Lehmanns herablassend und diskriminierend. Sie aber auf seine gesamte Persönlichkeit zu übertragen und solch drastischen Maßnahmen zu ergreifen, ist fragwürdig. Dennis Aogo selbst kritisiert dieses Vorgehen, da er Lehmann nicht für einen Rassisten hält. Er hätte sich einen offenen und sachlichen Austausch gewünscht. Leider neigt die „Cancel Culture“ dazu, gerade diesen Austausch zu umgehen. Überdies relativiert sie teilweise schwere Vergehen wie Rassismus, sodass sie auf alle möglichen Aussagen und Handlungen zutreffen. Daraus können sich unverhältnismäßige Folgen für die (vermeintlichen) Täter ergeben. Eine weitere Problematik der „Cancel Culture“ ist die Gefahr, dass Individuen sowie Organisationen nur aufgrund von Vorwürfen diskreditiert und bestraft werden.

Solange die Anschuldigungen weder geprüft noch nachgewiesen wurden, sollten Zurückhaltung und Objektivität das Gebot der Stunde sein. Schließlich erwarten wir alle auch von einem Richter:in, dass er sein/ihr Urteil nicht schon vor der Gerichtsverhandlung fällt. Voreilige Schlüsse und vorschnelle Entscheidungen, wie sie auch die „Cancel Culture“ zum Teil pflegt, können fatale Ausmaße für die Betroffenen haben. Das aber wahrscheinlich größte Problem der „Cancel Culture“ stellt deren Missbrauch durch politische Akteur:innen dar.

Verschiedene Parteien und Institutionen können auf die Macht der „Cancel Culture“ zurückgreifen, um sie für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Besonders rechtspopulistische Parteien wenden solche Mittel an, wie zum Beispiel die PiS1  in Polen. Diese Partei hat nach der Machtergreifung sowohl die Medien als auch diverse Organe eingenommen. Kritiker:innen dieser Maßnahmen wurden vorab als Volksverräter:innen oder Anhänger:innen reicher Eliten gebrandmarkt. In Fragen der sozialen Gerechtigkeit beruft sie sich auf eine angebliche moralische Überlegenheit und spricht ihren gegnerischen Parteien gleichermaßen diese Moralität ab. Die Populist:innen haben also die politische Debatte moralisiert. Dadurch vermeiden sie jede Art der sachlichen Diskussion und diffamieren ihre Widersacher:innen und deren Standpunkte von vornherein. Dass dabei auch zunehmend die sozialen Medien eine Rolle spielen, haben Populist:innen wie Donald Trump gezeigt. Dieses Vorgehen der Populist:innen kann gewissermaßen als „Cancel Culture“ wahrgenommen werden. Wenngleich diese Vorgehensweise nicht immer im Internet stattfindet, gleicht sie strukturell sowie methodisch der einer „Cancel Culture“. Hierbei ist aber darauf hinzuweisen, dass sich Populist:innen hinter dem eigentlichen Anliegen der „Cancel Culture“ verstecken und dementsprechend ihre wahren Absichten verbergen. Diese Strategie ist in allen politischen Strömungen zu verzeichnen. Die „Cancle Culture“ ist also kein Phänomen, welches ausschließlich rechten oder linken Bewegungen zugeordnet werden kann. Es wird je nach Situation und Opportunität gebraucht und missbraucht. Zum Schluss soll noch auf ein letztes Problem der „Cancel Culture“ verwiesen werden, nämlich auf das soziale und berufliche Umfeld der „Gecancelten“.

Oft werden Menschen und Organisationen, die mit „Gecancelten“ in Kontakt stehen, ebenfalls boykottiert. Wenn beispielsweise ein Dozent oder eine Dozentin an einer Universität tätig ist und einer höchst bedenklichen Partei wie der AfD angehört, wird diese Zugehörigkeit nicht nur auf die Person, sondern auf die gesamte Institution ausgeweitet. Die Universität kann in diesem Fall so stark von der „Cancel Culture“ unter Druck gesetzt werden, dass sie den Dozenten oder die Dozentin entlassen muss. Denn anderenfalls wäre es scheinbar eine Zustimmung dieser Meinung. Welche Arbeit der Dozent oder die Dozentin leistet und ob er oder sie in seinen oder ihren Seminaren wirklich derartige politische Inhalte verkörpert, nimmt eine untergeordnete Rolle ein. Wenn man sich dieser Logik unterwirft, dürfte niemand, der eine kontroverse Haltung vertritt, Zugang zu Bildung, Berufen oder sozialen Tätigkeitsfeldern erhalten. Eine Person nur aufgrund einer politischen Meinung derartig zu benachteiligen, obwohl die weder durch Handlungen noch Aussagen negativ auffiel, ist im Allgemeinen falsch. Ein solches Verhalten ist nicht nur verfassungswidrig (siehe Artikel 3GG), sondern auch (meiner Meinung nach) verwerflich. Denn daraus ließe sich ableiten, dass ein Mensch seinen Anspruch auf Grundrechte durch eine politische Anschauung verwirken kann. Gleichzeitig würde man dadurch das Prinzip einer pluralistischen Gesellschaft infrage stellen, da die Vielfalt an Meinungen und Sichtweisen nicht mehr gewährleistet werden könnte. Zudem dürfen wir nicht vergessen, dass viele AfD-Wähler:innen von Populist:innen getäuscht wurden. Die Strategie der AfD basiert darauf, soziale Ängste und Missstände aufzugreifen, emotional zu beladen und die sich daraus resultierende Verzweiflung und Erschütterung durch falsche Versprechungen und Sündenböcke (oft Migrant:innen) zu beschwichtigen. Diesen Menschen mit Hass, Zorn und Vergeltung entgegenzutreten, kann nicht der richtige Ansatz sein. Grundsätzlich sollte man zwischen dem Wesen eines Menschen und seinen politischen Überzeugungen unterscheiden. Beide stimmen nicht notwendigerweise überein und können sich durchaus widersprechen. Da die „Cancel Culture“ diese Differenzierung nicht immer zu vollziehen vermag, sollte sie generell kritisch betrachtet, beleuchtet und hinterfragt werden. Abschließend möchte ich betonen, dass ich nicht die Bestrebungen der „Cancel Culture“, sondern ausschließlich die Umsetzung derselben kritisiere.

Denn selbstverständlich kann jede Bemühung zur Bekämpfung von Rassismus, Sexismus und dergleichen nur wünschenswert sein. Doch sie legitimieren weder den Aufruf zur Gewalt noch die Zerstörung eines Lebens. Unsere Stärke liegt darin, dass wir derartiges Verhalten missbilligen und es nicht nachahmen. Gerade das zeichnet Feminismus, Antirassismus und die vielen anderen so wichtigen Bewegungen unserer Gesellschaft aus.

 1Prawo i Sprawiedliwość, deutsch Recht und Gerechtigkeit

Quellen:

NDR: „Cancel Culture“ – Was ist das eigentlich?

https://www.ndr.de/kultur/kulturdebatte/Cancel-Culture-Was-ist-das-eigentlich,cancelculture108.html, [05.06.2021]

ARD: Aogo hält Lehmann-Rauswurf für falsch (https://www.tagesschau.de/sport/aogo-lehmann-rauswurf-101.html, [06.06.2021])

Müller, Jan-Werner: Was heißt Populismus an der Macht?; in: Osteuropa: Gegen die Wand – Konservative Revolution in Polen, Berlin 2016. S.5-17.


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