Von David Wolf // Illustration von Josephin Bauer
Vier Schüsse wurden am 25. Februar 2004 kurz nach 10 Uhr im Dierkower Dönerladen Mr. Kebab abgefeuert. Sie trafen Mehmet Turgut im Kopf, Hals und Nacken, einer verfehlte ihn. Turgut starb noch vor Ort im Rettungswagen i. Nicht einmal zwei Wochen lebte er zu diesem Zeitpunkt in Rostock ii. Als ältester Sohn einer kurdischen Familie folgte er seinem Vater mit 15 Jahren nach Deutschland, wo er zunächst in Hamburg lebte. „Er wollte Geld sparen, um eine Familie zu gründen und meinen Eltern zu helfen“, erklärte sein Bruder später iii. Nur eine Woche nach dem Mord schloss die zuständige Mordkommission einen ausländerfeindlichen Hintergrund aus. Stattdessen ermittelte die Polizei im Umfeld des Opfers. Es wurde vermutet, dass Turgut in Drogengeschäfte oder Geldwäsche involviert war. Medien ordneten den Mord in die Reihe der „Döner-Morde“ ein. Eine Bezeichnung, die sich über die Jahre für eine Reihe an Morden durch ganz Deutschland etabliert hat iv. Erst im November 2011 wurde der rassistische Hintergrund der Mordserie aufgedeckt. Der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU), bekannte sich zum Mord an insgesamt 10 Menschen. Mehmet Turgut war das fünfte Opfer.
Neben den 10 Morden konnten dem NSU-Trio, bestehend aus Uwe Mundlos, Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt, 43 Mordversuche, 15 Raubüberfälle und drei Sprengstoffanschläge nachgewiesen werden v. Drei dieser Straftaten fanden in MV statt. Im November 2006 und Januar 2007 überfielen Mundlos und Böhnhardt zweimal dieselbe Sparkasse in Stralsund, wobei sie über 250.000 Euro raubten vi.
Auch bis heute konnten nicht alle Fragen rund um die Mordserie aufgeklärt werden. Hatte der NSU in MV ein Unterstützungsnetzwerk? Hatten Sicherheits- und Strafbehörden schon frühzeitig Hinweise auf die Existenz des NSU? Wieso hat der Verfassungsschutz nicht früher eingegriffen, obwohl es V-Personen, Vertrauenspersonen, die mit der Polizei zusammenarbeiten, im Umfeld des NSU gab? Der Aufklärung dieser Fragen widmet sich in MV zurzeit ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss. Nach 2018 ist das der zweite Untersuchungsausschuss, der sich mit dem NSU beschäftigt. Während sich der erste noch überwiegend mit dem Mord in Rostock befasst hat, sucht der zweite Ausschuss nach Hinweisen über ein mögliches NSU-Netzwerk in MV. Am 12. Mai hat Peter Madjarov, Referent des Untersuchungsausschusses der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN, während eines Vortrags in Greifswald einen Einblick in die Arbeit des Ausschusses gegeben.
Dass das NSU-Trio Verbindungen nach MV hatte, ist kein Geheimnis. Schon bevor sie untergetaucht sind, schien MV für das Trio ein beliebtes Urlaubsziel zu sein. 1992/93 lernten sie auf der Insel Rügen eine Jugendclique aus Nazis kennen, die sich in den folgenden Jahren häufiger gegenseitig besuchten. Auch nachdem Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt 1998 untergetaucht sind, fuhren sie häufiger zum Campen nach MV. Im Nachgang ihrer Selbstenttarnung wurden Unterlagen gesichtet, die einen Urlaub in MV für 2012 planten. Ob die Urlaube in MV und der Mord in Rostock nur zufällig in das gleiche Bundesland fielen, bleibt jedoch auch bis heute unklar.
Bisher konnte der Untersuchungsausschuss keine strafrechtlich relevanten Beweise finden, die ein NSU-Netzwerk in MV bestätigen würden. Jedoch gibt es einige Hinweise, die auf ein solches Netzwerk deuten. Im Editorial des Nazi-Magazins Der Weiße Wolf ist bereits 2002 ein offener Gruß an NSU-Mitglieder zu lesen. Im Nachgang einer Spende von 2.500 Euro stand dort: „Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen“. Angeblich erfuhr der Verfassungsschutz nur kurze Zeit später von einer V-Person über diese Spende. Woher diese Spende kam und was sich hinter dem Kürzel NSU verbirgt, wurde letztendlich nicht weiter ermittelt.
Aktuell befragt der Ausschuss Beamte, die 2004 an Ermittlungen zu einer Scheune beteiligt waren, in der Rechtsrock-Konzerte abgehalten wurden. Auf diese wurden Ermittler:innen durch einen Berufsschulaufsatz aufmerksam, in dem Maik L. von einem Ausflug in die Salchower Konzert-Scheune berichtet. In seinen Erzählungen schildert Maik, wie Hakenkreuze und Bilder von Adolf Hitler an den Wänden der Scheune hängen. Der Aufsatz brachte das Landeskriminalamt MV auf die Spur der Scheune. Im Oktober des selben Jahres kam es schließlich zu einer Durchsuchung der Konzertstätte. In einem Bericht des Polizeieinsatzes schildert ein Beamter mehrere Plakate mit dem Kürzel NSU oder auch NSU-Kindergarten vii. In späteren Vernehmungen von Neonazis wurden die Plakate jedoch nicht weiter thematisiert. Hier sieht Madjarov jedoch auch ein Problem. Zum einen besteht die Möglichkeit, dass an den Wänden der Scheune nicht das Kürzel NSU, sondern NSV (Nationalsozialistische Versorgungseinheit) stand. Die Buchstaben U und V seien in der Frakturschrift durchaus verwechselbar. Andererseits ist die Durchsuchung bereits fast 10 Jahre her, weshalb Ermittler:innen sich wohl kaum an das genaue Aussehen der Scheune erinnern würden.
NSU-Spendendosen auf Rechtsrock Konzerten, eine rechte Propaganda-CD, auf der das Kürzel NSU erscheint oder überregionale Nazi-Organisationen mit Verbindungen nach MV. Madjarov gibt noch einige weitere Beispiele, die auf ein NSU-Netzwerk in MV hinweisen. Die Verbindungen des NSU-Trios nach MV scheinen verworren und schwer nachvollziehbar. Mindestens bis Ende dieses Jahres hat sich der Untersuchungsausschuss der Aufklärung dieser Strukturen verschrieben.
i https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-10/nsu-mord-mehmet-turgut-rostock/komplettansicht
ii https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/NSU-Morde-in-Hamburg-und-Rostock,neonazimorde103.html
iii https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/mehmet-turgut-staatlich-anerkannt/
iv https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/mehmet-turgut-staatlich-anerkannt/
v https://katapult-mv.de/artikel/untersuchungsausschuss-nsu
vi https://www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-prozess-zeuge-ueber-den-bankraub-von-stralsund-a-1028783.html
vii https://www.antifainfoblatt.de/artikel/wie-unbekannt-war-der-nsu