Darf Literatur verletzend sein?

Von David Wolf // Illustration von Josephin Bauer

In einer der Bullerbü-Geschichten von Astrid Lindgren deutet Lasse auf ein Blatt Papier, welches er kurz vorher schwarz angemalt hat. Dazu sagt er: „Das sind fünf schwarze Neger in einer dunklen Kammer“. Vor 15 Jahren wurde dieser Witz in Deutschland noch veröffentlicht. Lediglich eine Fußnote wies darauf hin, dass man heute „Schwarze“ sagen würde. Heute erzählt Lasse den Witz mit fünf schwarzen Katzen, die in einer dunklen Kammer sitzen [1]. Solche Ausdrücke waren in Astrid Lindgrens Werken keine Seltenheit. Der Vater von Pippi war der „Negerkönig“ und Pippi selbst bezeichnete sich als „Negerprinzessin“. Heute stehen solche Ausgaben der Kindergeschichten nicht mehr in den Regalen von Buchhandlungen, sondern von Bibliotheken. Pippis Vater ist seit 2009 der „Südseekönig“ [2].

In Schweden, dem Ursprungsland von Pippi Langstrumpf, werden die Überarbeitungen der Kinderbücher durch die Nachfahren von Astrid Lindgren geprüft. Erst 2015 wurde das N-Wort dort aus den Geschichten gestrichen. Im Original sei es schwieriger, Änderungen vorzunehmen, erklärte die Enkeltochter Annika Lindgren in einem Interview mit der Zeit: „Aber wir haben mehrere Jahre darüber diskutiert, denn Karin [die Tochter Astrid Lindgrens] und auch einige Andere in der Familie waren anfangs gegen eine Änderung. Sie sagten, als Astrid den Text schrieb, sei der Gebrauch des N-Worts üblich gewesen und nicht rassistisch. Am Ende überzeugte sie das Argument, dass das N-Wort für Kinder heute aber diskriminierend ist“ [3]. Bei der Streichung des N-Wortes blieb es jedoch nicht. In den letzten Jahren wurden mehrere Kapitel aus den Geschichten von Astrid Lindgren entfernt. Anstatt das Original von Astrid Lindgren zu verändern, ist es ihrer Enkeltochter lieber, ganze Kapitel zu streichen. Gleichzeitig gibt es die Diskussion, die Geschichten von Astrid Lindgren ganz aus den Regalen zu nehmen, denn es werden nicht nur rassistische Aussagen getätigt. Einige der Geschichten vermitteln eine Hierarchiebotschaft: Der weiße Piratenpapa, der den schwarzen Menschen von Natur aus überlegen ist und demnach über sie herrscht.

Natürlich sind die Geschichten von Astrid Lindgren nicht die einzigen, die in den letzten Jahren auf diskriminierende Sprache untersucht wurden. In der englischen Literatur wurden dabei vor allem über die Veränderungen in den Werken von Roald Dahl diskutiert. Dahl ist unter anderem der Autor von Charlie und die Schokoladenfabrik, Matilda oder Hexen hexen. Die weltbekannten Oompa Loompas werden in den neuen Auflagen nicht mehr als „small men“, sondern als „small people“ bezeichnet und Augustus Gier wird nicht mehr als „fat“, sondern als „enormous“ beschrieben. Dabei wurde vor allem kritisiert, dass der Verlag diese Änderungen nicht mit der Öffentlichkeit teilte. Die britische Presse stürzte sich auf diese „heimlichen“ Änderungen, da sie darin eine Zensur sahen und Vergleiche zu George Orwells dystopischer Darstellung des „Ministeriums für Wahrheit“ in seinem Roman 1984 zogen, in dem die Geschichte und die Medien ständig umgeschrieben und an die aktuelle Linie der Partei angepasst werden.

Im Sinne von Dahl scheinen diese Änderungen nicht zu sein. Schon zu seinen Lebzeiten ist der Autor häufiger durch seinen Antisemitismus und Antifeminismus aufgefallen [4]. Im Deutschen blieben die Übersetzungen hingegen sehr wortgetreu [5].

Die Diskussionen über Diskriminierung durch die Wortwahl machen nicht bei Werken aus der Vergangenheit halt. Mit dem „Sensitivity-Reader“ ist ein ganz neuer Beruf entstanden, der sich zur Aufgabe gemacht hat, Bücher, oder auch Drehbücher, darauf zu überprüfen, ob bestimmte Inhalte und Formulierungen Diskriminierungen, Vorurteile oder Stereotypen reproduzieren. Dabei arbeiten Verlage und Autor:innen vor allem mit Sensitivity-Reader:innen, wenn es in den vorliegenden Werken um marginalisierte Gruppen geht oder wenn sich Autor:innen bei bestimmten Themen einfach unsicher fühlen [6].

Der pensionierte schweizer Literaturprofessor Bernard Schweizer sieht in dieser Entwicklung eine Gefahr. Er befürchtet, dass Autor:innen ihre Freiheit verlieren – die Freiheit, auch mal Grenzen zu überschreiten und sich über Normen hinwegzusetzen. In einem Interview mit der Zeit sagt er dazu Folgendes: „In der amerikanischen Verlagswelt von heute dürfen keine Grenzen mehr überschritten werden, seien es Grenzen der Identität, des Humors oder der Ideologie. Diese forcierte Sensibilität erzeugt eine Konformität, die dann der Literatur aufgezwungen wird. Kein Künstler ist davor mehr sicher. Das sieht man auch an Roald Dahl“ [7]. Schweizer spricht von einer „Überkorrektur“, in der die besseren Ideen letztendlich auf der Strecke bleiben. „Ich war neulich in einer Filiale von Barnes & Noble, der größten amerikanischen Buchhandlungskette. Da habe ich mir das Regal der aktuellen Romanbestseller angeschaut. 22 Bücher, von denen 20 von Frauen geschrieben sind“, erklärt Schweizer [8].

Das mag vielleicht in der Wahrnehmung von Schweizer der Fall sein. Die Realität zeigt hingegen ein anderes Bild. Darauf deutet zumindest eine Studie der Universität Rostock hin, die 2018 veröffentlicht wurde. Im Rahmen der Studie wurden 2036 Rezensionen und Literaturkritiken aus 69 deutschen Medienformaten untersucht. Dabei sind Rezensionen häufig der Ausgangspunkt dafür, wie viel Aufmerksamkeit ein Werk erhält. Schließlich kann ein Buch nur sichtbar werden, wenn auch darüber gesprochen wird. Dabei fanden die Autor:innen der Studie heraus, dass männlichen Autor:innen in Rezensionen weitaus mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Zwei Drittel der besprochenen Bücher sind von Männern geschrieben worden. Zusätzlich sind Rezensionen über Bücher von männlichen Autor:innen weitaus länger als die von weiblichen Autorinnen. Dieser Trend lässt sich vor allem in Genres beobachten, die als „intellektuell“ oder „maskulin“ gelten [9]. Eine Studie über Diversität im britischen Buchmarkt fand heraus, dass die Kernzielgruppe der meisten Verlage noch immer die weiße Mittelschicht ist. Grund dafür ist, dass Verleger:innen behaupten, sie wüssten nicht, wie sie andere Zielgruppen ansprechen könnten. Selbst wenn BIPoC-Autor:innen eine Chance von einem Verlag erhalten, wird ihr Werk dahingehend untersucht, ob es bei der weißen Mittelschicht Anklang finden würde, was zur Exotisierung und Marginalisierung dieser Autor:innen führen kann [10]. Zwar gibt es eine solche Studie nicht für den deutschen Buchmarkt, jedoch wird vermutet, dass der deutsche Buchmarkt ähnliche Probleme aufweist [11].

Die Debatte rund um das Sensitivity-Reading wird häufig sehr verkürzt dargestellt, dabei ist sie unfassbar komplex. Wie so oft ist der Kontext entscheidend, denn nicht jedes literarische Werk sollte gleich behandelt werden. Fachliteratur sollte einen anderen Anspruch auf Genauigkeit haben haben als Belletristik. Wird in Bücher eingegriffen, die gerade in der Entstehung sind oder wird in historische Texte eingegriffen? Handelt es sich um Literatur für Kinder und Jugendliche oder für Erwachsene? Sensitivity-Reading ist nicht dafür da, bestimmte Formulierungen zu verbieten oder Autor:innen in dem zu beschneiden, was sie sagen wollen. Es ist ein Werkzeug, das die Intentionen hinter bestimmten Formulierungen hinterfragen sollte. Welche Aussage soll durch eine bestimmte Formulierung herübergebracht werden? Wenn ein:e Autor:in eine Figur bewusst rassistische Aussagen tätigen lässt, um diese auf eine bestimmte Weise zu charakterisieren, ist das in Ordnung. Wenn hingegen ein Charakter wie Pippi Langstrumpf als Symbolbild für die Emanzipation von Frauen stehen soll, gleichzeitig jedoch rassistische Aussagen tätigt, stimmen Intention und Wirkung nicht miteinander überein. Denn Literatur darf provozieren und auch mal verletzend sein. Wichtig ist es dabei jedoch, welche Wirkung Autor:innen mit bestimmten Formulierungen beabsichtigen. Eine ausführliche Diskussion zu diesem Thema könnt ihr im SWR finden [12].

[1] https://www.zeit.de/2023/32/astrid-lindgren-kinderbuecher-rassismus-sprache-annika-lindgren/komplettansicht

[2] https://www.deutschlandfunk.de/suedseekoenig-statt-negerkoenig-100.html

[3] https://www.zeit.de/2023/32/astrid-lindgren-kinderbuecher-rassismus-sprache-annika-lindgren/komplettansicht

[4] https://www.nytimes.com/2023/02/20/books/roald-dahl-books-changes.html

[5] https://www.zeit.de/kultur/literatur/2023-02/roald-dahl-kinderbuecher-sprache-anpassung-verlag

[6] https://www.zeit.de/2023/05/sensitivity-reader-literatur-sensibilitaet

[7] https://www.zeit.de/2023/42/bernard-schweizer-heresy-press-literatur/komplettansicht

[8] ebd.

[9] http://www.xn--frauenzhlen-r8a.de/docs/Literaturkritik%20und%20Gender_08_09_18.pdf

[10] https://www.spreadtheword.org.uk/wp-content/uploads/2020/06/Rethinking_Diversity_in_Publishing_Deutsch.pdf

[11] https://www.boersenblatt.net/news/sonntagsfragen/diversitaet-im-deutschen-buchmarkt-109825

[12] https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/sensible-lektuere-wie-korrekt-sollen-buecher-sein-swr2-forum-2023-07-13-100.html

One Comment on “Darf Literatur verletzend sein?

  1. „Wenn hingegen ein Charakter wie Pippi Langstrumpf als Symbolbild für die Emanzipation von Frauen stehen soll, gleichzeitig jedoch rassistische Aussagen tätigt, stimmen Intention und Wirkung nicht miteinander überein.“

    Naja, sie stimmen nicht mit der von Teilen der Leserschaft gewünschten Charakterisierung einer Identifikationsfigur überein. Dennoch ist auch soetwas zulässig, denn es bildet nunmal die Realität ab und zeigt Charaktere, die eben nicht perfekt sind. Macht die Charaktere gleichzeitig glaubhaft.
    Filmexperten haben in letzter Zeit oft herausgearbeitet, dass der Grund für das Scheitern vieler woker Hollywoodproduktionen diese aalglatte Perfektion der Hauptcharaktere ist. Der Zuschauer kann sich so nicht wirklich mit diesem Menschen identifizieren und die Charaktere wirken künstlich.

    Jetzt kann man natürlich einwenden, das eine Figur, mit der man sich identifiziert, die aber auch unerwünschte Wesenzüge zeigt, eben jenen unerwünschten Zügen legitimation verleiht. Dagegen lässt sich aber erwiedern, dass eine Figur, mit der sich niemand identifizieren kann (u.a. weil sie eine moralische Perfektion erreicht, die für reale Personen nahezu unerreichbar ist), gar keinen Wandel mit sich bringt. Zudem ist es so, das es nicht nur eine einzige literarische Figur gibt, die zur Identifikation taugt. Pippi mag heute als rassistisch empfundene äußerungen Tätigen. Andere Figuren sind womöglich stramme Antifaschisten, aber legen sexisitisch gewertetes Verthalten an der Tag.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert